Mein größtes Spiel: Simon Rolfes – wunderbare Panik

Im EM-Viertelfinale 2008 gegen Portugal gab Simon Rolfes sein Debüt bei einer Endrunde – und feierte nach einer famosen Leistung einen damals durchaus überraschenden Triumph. Für den heutigen Sportdirektor von Bayer 04 bedeutete der EM-Auftritt eine veränderte öffentliche Wahrnehmung.
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Er hat das Spiel nicht vergessen. 14 Jahre lang nicht, nach mehr als 450 Begegnungen als Profi. Diese eine Partie ist Simon Rolfes noch überaus präsent. Und das liegt auch daran, dass der Sportdirektor von Bayer 04 immer wieder daran erinnert wird. Etwa beim Management-Lehrgang der UEFA, den er 2015 gemeinsam mit dem früheren portugiesischen Nationalstürmer Nuno Gomes absolvierte. Oder im Januar 2020, als er dem Berater von Edmond Tapsoba gegenübersaß – einem gewissen Deco, der langjährige Mittelfeldstratege des FC Porto und des FC Barcelona, der zweimal die Champions League gewann. „Sie sind beide nicht so gut auf diese Partie zu sprechen“, sagt Rolfes schmunzelnd. Denn die Portugiesen waren durchaus als Favorit in die Begegnung gegangen. „Eine Mannschaft voller Weltklassespieler, ein fantastisches Team“, schwärmt Rolfes in der Rückschau. Und im Juni 2008 wurde diese Mannschaft des brasilianischen Trainers Luis Felipe Scolari als erster Anwärter auf den EM-Titel gehandelt. Vier Jahre zuvor war Portugal bei der Heim-EM erst im Finale an den widerspenstigen Griechen gescheitert, zwei Jahre später bei der WM im Halbfinale unterlag man knapp den Franzosen. Nun, bei der EURO 2008 in Österreich und der Schweiz, waren die Portugiesen um Weltfußballer Cristiano Ronaldo, Pepe, Deco und Co. durch die Gruppenphase spaziert und vorzeitig ins Viertelfinale eingezogen.

Erst nur eine Option, danach die erste Wahl

Aber jetzt wartete in Basel die deutsche Nationalelf. Die Auswahl von Bundestrainer Joachim Löw, die sich in diese K.-o.-Runde gezittert hatte. Im abschließenden Vorrundenspiel hatte das DFB-Team gegen den Gastgeber Österreich nur dank eines fulminanten Freistoßtreffers von Michael Ballack das Viertelfinale erreicht – mit Simon Rolfes auf der Bank. Keine Minute hatte der defensive Mittelfeldspieler bis dahin bei dem Turnier auf dem Rasen gestanden, insgesamt ohnehin erst zehn Länderspiele absolviert, kein einziges über die vollen 90 Minuten. Doch dieses eine Spiel im St. Jakob-Park „hat die Wahrnehmung meiner Person als Nationalspieler stark verändert“, gesteht auch Rolfes im Rückblick. Das Spiel, schrieb DER SPIEGEL damals, werde „vermutlich auch in zwanzig Jahren noch als das wichtigste Länderspiel in Rolfes‘ Karriere gelten. Davor war der Leverkusener nur eine Option im defensiven Mittelfeld, danach die erste Wahl.“

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Aufgrund einer kurzfristigen Erkrankung des etatmäßigen Sechsers Torsten Frings musste das DFB-Team für die Partie gegen die Portugiesen umgebaut werden; und Löw, der wegen einer verbalen Auseinandersetzung mit Österreichs Nationaltrainer Josef Hickersberger auf die Tribüne verbannt wurde, wechselte die taktische Formation, ließ mit zwei Sechsern und einem vorgeschobenen Michael Ballack spielen. Hinter dem Kapitän agierte in der Defensivzentrale der Stuttgarter Thomas Hitzlsperger – und Simon Rolfes. Die Portugiesen überraschte der Schachzug, dabei war der Leverkusener alles andere als eine Notlösung: „Die Jahre 2008 und 2009 waren sportlich sicher meine beste Zeit“, sagt Rolfes. Bei Bayer 04 hatte er in drei Jahren bis zum Start der EM 100 von 102 möglichen Bundesligaspielen absolviert. Entsprechend selbstbewusst ging er auch in das Viertelfinal-Duell: „Ich war entspannt, überhaupt nicht nervös. Die Konstellation mit der Doppel-Sechs und ‚Balle‘ vor mir auf der 10 lag mir“, sagt Rolfes, „das strategische Spiel, das Schließen der Räume.“ Und der damals 26-Jährige lieferte; wie die gesamte Mannschaft, die sich der höheren individuellen Klasse der Portugiesen entgegenstellte. „Sie waren haushoher Favorit, aber uns Deutsche musst du erst einmal besiegen“, sagt Rolfes. „Mit dieser Mentalität sind wir in jeden Zweikampf gegangen, haben dabei aber auch gut Fußball gespielt.“

Rolfes und Hitzlsperger als Duo vor der Abwehr

27,7 Millionen Menschen (Marktanteil: 78,7 Prozent) verfolgten staunend die Partie in der ARD, ließen sich fesseln von einer DFB-Elf, die vom Anpfiff weg auf Augenhöhe war. Nach gut 20 Minuten folgte der verdiente Lohn. Erst traf Bastian Schweinsteiger (22.) nach einem famosen Angriff über die linke Seite, dann erhöhte Miroslav Klose(26.) per Kopf nach einer Freistoßflanke von Schweinsteiger. „Wir waren extrem griffig“, sagt Rolfes. „Das Stadion war voller Deutscher, es war wie ein Heimspiel.“ Die Bilder von damals zeigen das schwarz-rot-goldene Meer in der Schweizer Grenzstadt, die Unterstützung trug den Außenseiter. Der Anschlusstreffer der Portugiesen durch Nuno Gomes (40.) hatte vor allem einen psychologischen Effekt. „Man hat auf dem Feld gemerkt, dass die Portugiesen nach dem 1:2 dachten, dass das Spiel jetzt kippt, dass sie es schon regeln.“ Doch es kam anders, vor allem, weil Rolfes und Hitzlsperger prächtig harmonierten, weil sie das Kombinationsspiel der Südeuropäer schlau unterbanden.

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Die hochgelobte Elf von Scolari kam nicht ins Rollen. Rolfes kann das Gefühl fast noch spüren. „Sie wurden von Minute zu Minute hektischer, nach dem 3:1 von ,Balle‘ schon fast panisch.“ Der Kopfballtreffer von Michael Ballack (61.) ließ die Portugiesen hilflos zurück. Außer zunehmender Härte hatten sie dem kontrollierten, klugen, aber zugleich wuchtigen Spiel der Deutschen nichts entgegenzusetzen. „Das war ein wunderbares Gefühl. Auf dem Platz hat man schon gemerkt, dass sie nahe dran waren, zu verzweifeln.“ Der Anschlusstreffer von Helder Postiga (87.) kam zu spät – Deutschland hatte, unter den Augen des nervösen Jogi Löw in der VIP-Loge, zum ersten Mal nach zwölf Jahren wieder ein K.-o.-Spiel bei einer Fußball-Europameisterschaft gewonnen. Mittendrin: Simon Rolfes, der erstmals ein Länderspiel über die volle Distanz absolviert hatte.

Emotionaler Kabinen-Moment mit Hansi Flick

Und so saß der EM-Debütant Rolfes nach der Partie ausgepumpt, aber glücklich im Raum der deutschen Physiotherapeuten um Adi Katzenmeier, als der heutige Bundestrainer Hansi Flick hereinkam. Der damalige Löw-Assistent hatte ebenfalls debütiert – als Chefcoach für ein Spiel. Die beiden verband eine gemeinsame Geschichte. Fünf Jahre zuvor hatte Flick, damals Trainer des Regionalligisten TSG Hoffenheim, vergeblich versucht, den jungen Simon Rolfes aus Bremen in den Kraichgau zu locken. Flick sah ihn lächelnd an: „Das hätten wir beide damals auch nicht gedacht, dass wir plötzlich hier sitzen.“ Es war ein emotionaler Moment.

Wie es weiterging? Im folgenden Halbfinale gegen die Türkei (3:2) war Rolfes dann – trotz Frings‘ Genesung – wieder erste Wahl, musste allerdings nach einer Verletzung zur Halbzeit raus. Und als im Finale die Spanier 1:0 in Führung gingen, „da wusste ich, dass es wohl nichts mehr werden würde mit einem Einsatz“. Rolfes lacht. Er war schließlich beim Triumph gegen Portugal dabei. Und das hat er sich eingerahmt im Herzen, wie er direkt im Anschluss bereits im SPIEGEL-Interview zu Protokoll gab: „Es war das wichtigste Spiel meiner Karriere.“

Die Statistik zum Spiel:

Portugal – Deutschland 2:3 (1:2)

Donnerstag, 19. Juni 2008, 20.45 Uhr (EM-Viertelfinale)

Portugal: Ricardo – Bosingwa, Pepe, Carvalho, Paulo Ferreira – Petit (73. Helder Postiga) – Moutinho (31. Raul Meireles), Deco – Simao, Nuno Gomes (67. Nani), Ronaldo

Deutschland: Lehmann – Friedrich, Mertesacker, Metzelder, Lahm – Rolfes, Hitzlsperger (73. Borowski) – Schweinsteiger (83. Fritz), Ballack, Podolski – Klose (89. Jansen)

Tore: 0:1 Schweinsteiger (22.), 0:2 Klose (26.), 1:2 Nuno Gomes (40.), 1:3 Ballack (61.), 2:3 Helder Postiga (87.)

Schiedsrichter: Fröjdfeldt (Schweden)

Zuschauer: 39.374 im St. Jakob-Park, Basel

Der Beitrag ist dem Werkself Magazin #35 entnommen, das im März 2022 erschienen ist. HIER geht's zu den kostenlosen Online-Blätterkatalogen aller bisherigen Werkself Magazine.

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