Ein Kunst­werk zum Ein­stand

Lis­anne Gräwe im Por­trät

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Sie zählt im zentralen Mittelfeld zu den begabtesten Spielerinnen ihres Jahrgangs in Deutschland, beim DFB ist sie aktuell U19-Nationalspielerin: Lisanne Gräwe. Im Sommer vergangenen Jahres wechselte die 18-Jährige vom VfL Wolfsburg, wo sie in der zweiten Mannschaft spielte, zu Bayer 04. In Leverkusen ist ihr in ihrem ersten Bundesliga-Jahr ein perfekter Start gelungen, an den sie im zweiten Saisonabschnitt anknüpfen will. Ihr Weg in die erste Liga verlief indes lange ungewöhnlich.

Rückblick: Es ist ein verregneter, für den Monat August außergewöhnlich kühler Sonntag in Jena. Lisanne Gräwe aber wird nicht primär an das Wetter denken, wenn sie sich in vielen Jahren an ihre erste Bundesliga-Partie für Bayer 04 zurückerinnert. Denn für den Moment des Tages sorgt die 18-Jährige selbst: Im Ernst-Abbe-Sportfeld des FC Carl Zeiss Jena liegt Leverkusen durch ein Tor von Dóra Zeller 1:0 in Führung, doch das Spiel wogt hin und her. In der 62. Minute landet der Ball nach einem Fehlpass der FCC-Torhüterin bei Gräwe. Die Mittelfeldspielerin ist rund 25 Meter entfernt vom gegnerischen Tor – und zieht sofort ab. Der Ball fliegt im hohen Bogen auf den Kasten. Mitspielerinnen und Gegnerinnen schauen ihm gespannt nach – bis er unhaltbar unter der Latte einschlägt. Ein Traumtor, ein Kunstwerk, das Bayer 04 2:0 in Führung bringt und den Auswärtserfolg zum Auftakt der Spielzeit 2021/22 sichert.

„Besser kann es nicht laufen“

Für Gräwe war die Partie bei Carl Zeiss Jena das erste Pflichtspiel für ihren neuen Arbeitgeber, nachdem sie im Sommer vom VfL Wolfsburg nach Leverkusen gewechselt war. „Besser kann es natürlich nicht laufen – wir haben gewonnen und ich habe ein Tor geschossen. Das schaffe ich eigentlich nicht so häufig. Einfach ein tolles Gefühl und ein super Start in die Saison für uns“, sagte Gräwe. Es war ihr erster Treffer in der FLYERALARM Frauen-Bundesliga – bei ihrem Startelf-Debüt. Beim VfL hatte sie ihre Premiere als Einwechselspielerin gefeiert, ansonsten aber für die U20 in der 2. Bundesliga gespielt. Bayer 04-Trainer Achim Feifel zollte ihr schon nach wenigen Monaten großen Respekt: „Wir sind sehr zufrieden mit ihr. Wie schnell sie in der Bundes­liga angekommen ist, das ist schon sehr beeindruckend. Lisanne nimmt trotz ihres jungen Alters bereits eine sehr wichtige Rolle bei uns im zentralen Mittelfeld ein.“

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Gräwe stand bislang in sämtlichen Pflichtspielen der laufenden Saison auf dem Rasen, meist bildete sie mit Irina Pando und Kristin Kögel die Leverkusener Mittelfeld-Zentrale. Obwohl die Nummer 5 von Bayer 04 beim aktuellen Vizemeister spielte und U19-Nationalspielerin ist, hatte sie selbst mit einer solchen Entwicklung wohl am wenigsten gerechnet. Im vergangenen Sommer stieg sie als letzte Spielerin in die Saisonvorbereitung ein, da sie zuvor noch die Grundausbildung bei der Bundeswehr absolviert hatte. Vor ihrem ersten Auftritt in Schwarz-Rot plagten sie deshalb ungewohnte Selbstzweifel: „Vor dem Testspiel in der Vorbereitung gegen Hoffenheim hatte ich viel Respekt. Ich war nahezu ängstlich. Da habe ich mir viele Gedanken gemacht und mich selbst immer wieder gefragt: ‚Habe ich das Niveau? Schaffe ich das?‘“

Sich selbst beschreibt sie als „auf und neben dem Platz komplett unterschiedlich“ – und erklärt sofort, warum: „Abseits des Fußballs bin ich eine schüchterne, ruhige Person. Wenn das Spiel angepfiffen wird, bin ich hingegen voll da. Und wenn es sein muss, haue ich auch mal jemanden um.“ Den Mut, sich ihren Gegnern in den Weg zu stellen, zeigte sie bereits als Kind – ihre Kontrahenten waren zu dieser Zeit allerdings noch Jungs. Auf der Straße oder auf den ostwestfälischen Bolzplätzen ließ sie regelmäßig ihr Talent aufblitzen, weshalb ihr Zwillingsbruder sie zum Training seiner Mannschaft beim FC Kaunitz einlud. Das junge Mädchen überzeugte auf Anhieb und war nicht mehr wegzudenken aus dem Team – bis zu einem Zwischenfall, über den sie heute lacht: „Ich hatte einen Mitspieler im Training gefoult. Anschließend bin ich ein paar Wochen zu Hause geblieben, weil ich den Jungs nicht wehtun wollte. Ich bin erst wieder hingegangen, als mein Bruder mich dazu aufgefordert hat.“

Ausbildung im Junioren-Bereich

In Kaunitz, einem Ortsteil von Verl im Kreis Gütersloh, spielte sie bis zur C-Jugend. Im Alter von 14 Jahren folgte der Wechsel in die Junioren-Landesliga zum SC Wiedenbrück, wo Gräwe inmitten gleichaltriger Jungs die Mittelfeldzentrale bildete. Ein Angebot, in der B-Juniorinnen-Bundesliga für den FSV Gütersloh zu spielen, lehnte sie dafür ab. Sie bereut es nicht, die Zeit als einziges Mädchen in der Mannschaft bereitete sie optimal auf die höchste Bühne im deutschen Frauenfußball vor: „Das war etwas ganz anderes als gegen Mädchen in meinem Alter zu spielen. Die Jungs waren viel athletischer, auch die Spielgeschwindigkeit war eine andere. Zudem wurde natürlich viel körperlicher agiert.“

Von Bayer 04 habe ich die Möglichkeit bekommen, in der ersten Liga Erfahrung zu sammeln. Die Chance habe ich sofort ergriffen.

Zwei Jahre später wechselte die gebürtige Paderbornerin dann doch in den Frauenfußball und zu den Wölfinnen. In Wolfsburg bereiteten ihr die neue Umgebung sowie die räumliche Trennung von den Eltern zunächst aber Probleme. Sie lebte in einem Haus mit acht Spielerinnen der Wolfsburger U20, eine neue, intensive Erfahrung, wie sie ehrlich zugibt: „Zunächst war die Situation schwierig. Glücklicherweise gab es Betreuerinnen, die tagsüber für uns da waren. Zuvor hat meine Mama alles für mich erledigt – mich umzumelden, die Wäsche zu waschen oder zu kochen, dabei brauchte ich Hilfe.“ Auch sportlich lief es zunächst nicht optimal – die ersten Wochen im Talente-Pool beim sechsmaligen Deutschen Meister verbrachte Gräwe auf der Ersatzbank, doch sie schaltete schnell auf Angriff: „Dann habe ich mich im Training reingebissen und bereits nach vier Spielen wurde ich Stammspielerin. Allerdings bin ich ein Mensch, der sich sehr schnell Gedanken macht.“

Chance bei Bayer 04 „sofort ergriffen“

Nach 23 Spielen für die Wolfsburger U20 erhielt sie mit 17 Jahren einen Vertrag für die erste Mannschaft, „ziemlich schnell“, wie sie selbst empfand: „Plötzlich war ich in einem Team mit Spielerinnen, die teilweise schon elf, zwölf Jahre da waren. Ich habe zusammen mit Olympiasiegerinnen, Welt- und Europameisterinnen trainiert und gespielt. Davon habe ich schon als kleines Kind geträumt.“ Allerdings stand Gräwe zwar häufig im Kader, nach ihrem Debüt im September 2020 spielte sie jedoch keine Minute mehr in der Bundesliga. „Beim VfL hätte ich weiter mit der ersten Mannschaft trainieren und am Wochenende in der U20 spielen können, aber das wollte ich nicht. Von Bayer 04 habe ich dann die Möglichkeit bekommen, in der ersten Liga Erfahrung zu sammeln. Die Chance habe ich sofort ergriffen.“ 

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Bayer 04 freut sich über den Transfer-Coup. Nach Gräwes Tor zum Auftakt gegen Jena bereitete sie beim Heimsieg gegen Potsdam den 1:0-Führungstreffer durch Verena Wieder vor. Ein Traumstart, mit dem die Mittelfeldspielerin nicht gerechnet hatte: „Achim Feifel sagte mir in unseren ersten Gesprächen im Sommer, dass er viel von mir hält. Dennoch musste ich natürlich Leistung bringen. Vor allem in einer Mannschaft, die derart gut besetzt ist, ist das nicht einfach.“ Im Team von Feifel hat sich Gräwe aber als Ballverteilerin etabliert. „Lisanne ist stets anspielbar und strahlt Ruhe im zentralen Mittelfeld aus – auch unter hohem Gegner-Druck. Das ist für uns sehr wichtig. Sie zeigt eine hohe Spielaktivität auf dem Platz und versucht stets, eine Hilfe für die Innen- oder Außenverteidigerinnen zu sein“, so der Cheftrainer.

Frauen-Nationalteam als Anreiz

In Leverkusen arbeitet Gräwe in der kürzlich gestarteten Vorbereitung auf die Restrunde in der Frauen-Bundesliga weiter täglich daran, noch besser zu werden – auch wenn sie als Stammspielerin den ersten wichtigen Schritt bereits vollzogen hat. Denn die nächsten Ziele hat sie sich schon gesetzt: „Früher hätte ich nie gedacht, dass ich als Frau Profi werden kann. Eigentlich wollte ich immer nur bei den Männern spielen. Aber als ich mir das deutsche Frauen-Nationalteam als Kind im Stadion angeschaut habe, dachte ich mir: Cool, da möchte ich auch mal hin.“

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Mit dem Adler auf der Brust: Lisanne Gräwe (Nr. 6, hier im U17-EM-Spiel gegen England) will eines Tages für die A-Nationalmannschaft auflaufen.

Unterstützt wird sie auf ihrem Weg von ihren Eltern. Sie reisen zu den Heimspielen von Bayer 04 aus dem 170 Kilometer entfernten Kaunitz an, fahren sogar zu einigen Auswärtspartien. „Ich bin sozusagen ihr größtes Hobby“, so Gräwe mit einem Lächeln im Gesicht. „Dass die beiden oft live dabei sind, hilft mir schon sehr.“ Wenn es für den Neuzugang von Bayer 04 weiterhin so gut läuft wie in der Hinserie, werden Mutter und Vater Gräwe ihre Tochter noch häufig auf dem Platz beobachten – denn unabhängig von ihrem Traumtor in Jena hat Lisanne Gräwe nicht nur ihren Eltern bereits bewiesen: Es lohnt sich, ihr zuzuschauen.

Der Beitrag ist dem Werkself Magazin #33 entnommen. HIER geht's zum Online-Blätterkatalog.