#RoadtoGlasgow – Lußem über 2001/02: „Platz eins im Ranking“

Frank Lußem arbeitet seit 1980 für den Kicker und ist dort Leiter der Redaktion West. Bayer 04 begleitet der 61-Jährige journalistisch seit 1982. Er kennt den Klub wie nur wenige andere seiner Kollegen. Wie hat er als Redakteur diese Saison 2001/02 im Allgemeinen und das Heimspiel der Werkself gegen den FC Arsenal im Besonderen erlebt? Ein Interview…
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Frank, die Partie gegen den FC Arsenal war für Bayer 04 das erste Spiel gegen eine englische Mannschaft. Viele aus dem damaligen Team haben sich gefreut, endlich mal auf der Insel spielen zu können. Wie groß war die Vorfreude bei dir?

Lußem: Eher verhalten, wenn ich ehrlich bin. Mir kam die gesamte Gruppe schlicht und einfach zu schwer vor. Juve, Arsenal, La Coruna – das waren schon ein paar dicke Brocken,  und ich hatte nicht die Fantasie, dass Bayer in den Spielen gegen diese Teams genügend Punkte für das Erreichen des Viertelfinales holen könnte, schon gar nicht gegen Arsenal.

Wann bist du zum ersten Mal bei einem Spiel in England gewesen?

Lußem: Das war 2002 auch meine Premiere in England. 1996 musste ich vor der EM aus gesundheitlichen Gründen passen, vorher und nachher ergab es sich nicht. Allerdings war ich sowohl mit dem 1. FC Köln als auch mit Bayer in Glasgow. Und das ist noch einmal eine ganz andere Nummer als England. Ob Ibrox oder Hampden – da geht richtig die Post ab.

Arsenal kam als englischer Vizemeister nach Leverkusen, die Mannschaft bestand allerdings zu einem beachtlichen Teil aus Franzosen.

Lußem: Und die Gunners hatten mit Arsene Wenger noch einen französischen Trainer. Eine starke Mannschaft, die eine Menge Wert darauf legte, Fußball zu spielen – fast zu zelebrieren.

Wer war für dich der Beste aus dieser „French Connection“?

Lußem: Patrick Vieira, ganz eindeutig. Ein Stratege von Weltklasse, der den Zweikampf beherrschte und immer zwei bis drei Züge vorausdachte. Ein wunderbarer Fußballer.

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Arsenal war ohnehin ein interessantes Team mit illustren Typen wie dem schon 38-jährigen David Seaman im Tor oder dem unter Flugangst leidenden Dennis Bergkamp…

Lußem: Seaman gehört in der schwierigen Historie der englischen Keeper sicherlich zu den besseren Torhütern, wenngleich auch er immer für einen Bock gut war. Dennis Bergkamp war schlichtweg ein Genie. Allein sein Tor im Rückspiel in Highbury – Bayer verlor 1:4 – war ein Sahnestückchen, ein sensationeller Lupfer über Jörg Butt hinweg. Er hatte das erahnt, obwohl er mit dem Rücken zum Tor stand.

Wie hast du das Heimspiel der Werkself gegen Arsenal erlebt?

Lußem: Es war lange Zeit ein Abtasten auf hohem Niveau. Arsenals Führung kam überraschend, weil die Engländer vorher zwar technisch fein, aber wenig zielstrebig agiert hatten. Ich meine, Bayer war – was die Chancen anging – im Vorteil. Aber erst nach dem Platzverweis für Parlour ging die Werkself volles Risiko.

Hattest du Arsenal so defensiv erwartet?

Lußem: Ja, weil der Respekt groß war vor Bayers Offensive, und Vieira auf dem Platz das Tempo vorgab. Und er wollte kein Risiko eingehen. Immerhin wäre diese Taktik ja fast belohnt worden.

Für die Zuschauer war es erstmal eine zähe Angelegenheit.

Lußem: Das war eines dieser Spiele, die Fußball-Nerds mit der Zunge schnalzen lassen. Wenig Spektakel, aber eine Menge hohe Kunst in der Defensive und dabei immer die Suche nach der Lücke.

Ulf Kirsten bestritt quasi seine letzte volle Saison mit Bayer 04. Und sein Treffer zum 1:1 in der letzten Minute war auch sein letztes internationales Tor. Wie hast du ihn erlebt in dieser Saison 2001/02, in der er schon 36 Jahre alt wurde?

Lußem: Er hatte ja schon in Lyon für Bayer getroffen und bewiesen, dass er längst nicht zum alten Eisen gehört. Die Franzosen tauften ihn damals das „alte Gewehr“. Ich glaube, Klaus Toppmöller machte einen Fehler damit, nicht mehr konsequent auf Ulf zu setzen. Einmal, weil Kirsten immer noch über einen guten Ruf und einen gehörigen Instinkt verfügte. Andererseits, weil seine Laune den Bach runterging und dies nicht förderlich für das Binnenklima war.

Toppmöller setzte zunehmend auf Dimitar Berbatov. Hattest du damals bei Berbo auch schon das Gefühl, er könnte mal ein ganz Großer werden? 

Lußem: Ich verglich ihn immer mit Marco van Basten. Hoch aufgeschossen, schlaksig, aber dennoch technisch perfekt und ein Bewegungswunder. Dimitar war allerdings noch sehr jung, hatte nicht die Kaltschnäuzigkeit, die beispielsweise Ulf Kirsten auszeichnete, oder auch Oliver Neuville. Aber das Gefühl, er könne ein Weltklasse-Fußballer werden, das hatte ich sehr früh bei ihm. Das vorauszusagen, war jedoch kein Kunststück.

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Nach dem 1:1 zu Hause gegen Arsenal war in Gruppe D weiterhin alles total offen. Dann kam das Rückspiel in London, und Bayer 04 hatte nach dem 1:4 plötzlich ganz schlechte Karten und noch Juventus Turin sowie Deportivo La Coruna vor der Brust.

Lußem: Uns Journalisten war nach diesem Spiel in Highbury klar, dass nach La Coruna Schluss sein würde mit den Dienstreisen. Wir haben keinen Cent mehr auf Bayer gesetzt.

Und als sich die Werkself dann doch für die K.o.-Runde qualifizierte, hast du ihr da den Weg bis ins Finale zugetraut?

Lußem: Nein, auch nicht, als die zweite Gruppenphase überstanden war. Was dann kam, war ganz großes Kino mit Liverpool und Manchester und diesen Spielen, von denen heute noch jeder spricht. Das war eine unfassbare Phase in der Geschichte von Bayer Leverkusen. Wie ein Traum.

Was für einen Eindruck hat das Team auf dich gemacht? Du hattest ja zu vielen einen sehr engen Draht?

Lußem: Wir Journalisten waren eher zweckpessimistisch unterwegs. Wir verglichen die Teams eins zu eins und kamen schnell zum Schluss, dass Bayer keine Chancen haben wird. Da waren die Profis viel optimistischer und selbstbewusster unterwegs. Und irgendwann verfestigte sich der Eindruck, dass die Jungs tatsächlich in der Lage waren, alles zu gewinnen. Was ja auch fast passiert wäre.

Du bist seit 40 Jahren journalistischer Begleiter von Bayer 04 – wie würdest du diese Saison 2001/02 in der Historie des Klubs einordnen?

Lußem: Platz eins im Ranking – unangefochten. Nur der Aufstieg 1979 ist in etwa damit vergleichbar. Weil hier das Fundament gelegt wurde. Aber in dieser Saison 2001/02 legte Bayer einen Ritt hin, der dem Team niemand je zugetraut hätte. Und deshalb steht sie für mich ganz oben, noch vor UEFA-Cup-Sieg und Pokalsieg. Unabhängig davon, dass selten ein Team so viel Weltklasse repräsentierte: Nowotny, Lucio, Zé Roberto, Schneider, auch Placente und Bastürk und natürlich ein wunderbarer Michael Ballack – das war ein Traum.

Es war eine unglaublich kräftezehrende Saison für das Team mit wahnsinnig vielen Partien für die Stammspieler. War der Kader letztlich nicht breit genug, um zumindest eine der sich dann bietenden Titel-Chancen zu nutzen?

Lußem: Der Kader war nicht tief genug besetzt. Wäre Bayer in der Champions League in Liverpool ehrenvoll ausgeschieden, wäre das Team mit Vorsprung Deutscher Meister geworden. Davon bin ich überzeugt. Dieser Stress aber forderte zu viel Kraft. Ich werde nie vergessen, wie Jens Nowotnys Kreuzband gegen Manchester riss und welche Auswirkungen dies für das Team hatte. Einen Nowotny konnte keiner ersetzen, es gab hier eine Blessur, da eine Pause. Da kam zu viel Stress zusammen. Und am Ende reichte es dann eben nicht. Ein Drama.

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