Sch­nix, der „weiße Bra­si­lia­ner“

Bernd Schnei­der

Im Sommer 2019 wurde die Riege der Ehrenspielführer um Rüdiger Vollborn und Stefan Kießling erweitert. Bayer04.de nutzt die aktuell spielfreie Zeit, um in den kommenden Wochen jeweils freitags diesen verdienten Werkself-Legenden zu danken. Im dritten Teil der Serie geht es um Bernd „Schnix“ Schneider.

15 Jahre lang – von Kindesbeinen bis in die Profiteams – spielte Bernd Schneider in seiner Heimatstadt Jena mit steigender Begeisterung Fußball. Dann zog es ihn hinaus in die weite Welt des Sports. Seine erste Bundesliga-Saison absolvierte er im Dress von Eintracht Frankfurt, wo sein außergewöhnliches Talent weithin sichtbar wurde. Es folgten zehn Jahre, seine besten, in der BayArena. Als Schneider im Sommer 1999 von der Frankfurter Eintracht nach Leverkusen wechselte, konnte Bayer 04 auf immerhin 20 Jahre Bundesliga-Geschichte, zwei Titel (1988 UEFA-Cup-Sieger und 1993 Gewinn des DFB-Pokals), vorbildliche professionelle Strukturen und ein Schmuckkästchen von Stadion, die BayArena, verweisen.

Zudem hatte man ambitionierte Pläne. Unter der Regie des ehrgeizigen Trainers Christoph Daum wurde personell beträchtlich aufgerüstet. Neben Schneider verpflichtete man Oliver Neuville, Thomas Brdaric und (aus Kaiserslautern) einen aufstrebenden jungen Mann namens Michael Ballack. Als Schneider seinen Spind in der BayArena bezog, war Bayer 04 längst eine feste und ernsthaft beachtete Größe im bundesdeutschen Fußball-Betrieb. Nach dem Aufstieg in die Beletage hatte der Klub für sich und seine Vorstellungen mit dem Slogan „Profis mit Herz“ geworben. Das hätte Schnix wohl gefallen. So wie ihm später auch die leicht selbstironische Kampagne rund um die „Werkself“ gefallen hat. Fußball mit Herz und mit dem hundertprozentigen Abrufen aller Kräfte.

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Von Anfang an Stammspieler in Leverkusen: Bernd Schneider.

Schneider, der Spieler mit der magischen 25, machte sich in der preisgekrönten Fotoserie mit einem Schlagbohrer frisch ans Werk. Bevor sich das Bayer 04-Management und Bernd Schneider endgültig einigten, drohte noch der 1. FC Kaiserslautern dazwischen zu funken. Aber die Rheinländer ließen nichts anbrennen. Der Transfer wurde möglich, weil der Spieler zwar noch zwei weitere Jahre an die Eintracht gebunden war, in seinem Vertrag aber über eine Ausstiegsklausel verfügte, die ihm (bei zwei Millionen Mark Ablösesumme) den Wechsel zu einem Champions League- Teilnehmer ermöglichte. Was ja auf Leverkusen zutraf, das angesichts der in der Königsklasse winkenden Einnahmen kräftig in seinen Kader investierte. „Ich betrachtete die BayArena als die geeignete Plattform, mich international zu positionieren und zu präsentieren“, erinnert sich Schneider, „und ich rechnete mir gute Chancen im Hinblick auf weitere Berufungen in die Nationalelf aus.“

Wieder ein Schritt getan, wieder ein Ziel erreicht. Ein Mann ist im Plan. Bei Bayer 04 fand der „Schnixler“ auf Anhieb seinen Stammplatz in einem hochkarätig besetzten Team. Vom ersten Trainingstag an kam er konsequent der Empfehlung seiner Frankfurter Freunde nach, sich durch nichts und niemanden beeinflussen zu lassen und den Leuten in Leverkusen vorzuführen, was er so drauf hat. Was ja, wie sich schnell herausstellen sollte, nicht wenig war. Vor allem dem Trainer gefiel die Art des Neulings, dem freilich auch ein bisschen das Glück zur Seite stand. Er rutschte sofort in die Anfangsformation, weil sich der Kollege und Konkurrent Michael Ballack verletzt hatte und während der ersten drei Monate nicht zur Verfügung stand. Des einen Glück, des anderen Pech. Manchmal ist Fußball wie im „richtigen“ Leben.

Ich habe mich sportlich und menschlich bestens aufgehoben gefühltBernd Schneider

Im vergleichsweise unhektischen Leverkusener Biotop an der A1 kam der zurückhaltende Newcomer aus Thüringen sehr gut zurecht. „Ich habe mich sportlich und menschlich bestens aufgehoben gefühlt“, sagt Schneider. 296 Bundesliga-Einsätze weist seine Statistikliste aus. Immer wieder erreichten ihn zwischenzeitlich verlockende Angebote von Premiumklubs der Liga, aber der Ballkünstler widerstand, weil er hier heimisch geworden war und eigentlich nie das Verlangen hatte, sich zu verändern.

Ein, zwei Ausnahmen aus seiner Zeit bei Bayer 04 sollten allerdings auf keinen Fall unterschlagen werden, machen sie doch seinen Stellenwert in der High Society des internationalen Fußballs deutlich. Lassen wir Bernd berichten: „Am Ende unserer großartigen Saison 2001/02 mit Leverkusen gab es ein auch für Bayer 04 lukratives Angebot des großen FC Barcelona. Das wär ’s gewesen. Barca wäre meinem Verständnis von Fußball, meiner Art Fußballzu spielen, gerecht geworden. Leider ist nichts draus geworden. Schade, es hätte eine schöne Erfahrung werden können. Ich hätte es gerne

wahrgenommen, aber ich bedauere es keineswegs, dass der Wechsel nicht zustande kam. Im Jahr darauf wollte mich Klaus Toppmöller mit nach Barcelona nehmen, aber er bekam letztlich die Trainerstelle dann doch nicht. Während der Weltmeisterschaft 2006 hat Jürgen Klinsmann mal geäußert, ich wäre der erste Spieler, den er mitnehmen würde, wenn er morgen Trainer bei Real Madrid würde. Danke für das Kompliment.“

Seine Fans bei Bayer sind dankbar, dass Bernd Schneider sein Können weder dauerhaft in Nou Camp noch im Estadio Bernabeu, sondern weiterhin zu ihrer Freude in der BayArena zelebriert hat. Sein Spitzname „Schnix“ leitet sich übrigens aus dem Verb „schnixeln“ her und bedeutet so viel wie dribbeln, austricksen, anschnibbeln. „Schnix ist der einzige deutsche Fußballer, der sofort in der Selecao mitspielen könnte“, bedachte ihn sein Leverkusener Mitspieler Juan einst mit einem 1A-Kompliment. Der musste es wissen - als Brasilianer. Schon sein ehemaliger Mannschaftskollege Emerson hatte Schneider aufgrund dessen überragender Technik „weißer Brasilianer“ genannt - ein Attribut, das ihm seit dem verlorenen WM-Finale 2002 eben gegen die Selecao (0:2) immer wieder gerne zugeschrieben wurde.

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Bernd Schneiders bemerkenswerte Karriere gleicht einer emotionalen Achterbahnfahrt mit denkwürdigen Höhepunkten und Enttäuschungen biblischen Ausmaßes. Im April 2008 zog er sich bei einem Euro-League-Spiel in St. Petersburg eine schwere Rückenverletzung zu. 2009 zwangen deren Folgen den 35-jährigen Profi zur Aufgabe. Sein letzter Auftritt für die Werkself in einem Pflichtspiel wurde für ihn aber noch einmal zu einem ganz besonderen Erlebnis: Am 16. Mai 2009, ein Jahr nach dem Unglück in St. Petersburg und nach einem Jahr voller Hoffnungen und Enttäuschungen in den Reha-Zentren der Republik, war es so weit mit dem heiß ersehnten Comeback. Die monatelange Schufterei sollte sich auszahlen. 

Wie mich unsere Fans in diesen Minuten unterstützt und gefeiert haben, das war einer der bewegendsten Momente in meinem LebenBernd Schneider

Beim Heimspiel gegen Borussia Mönchengladbach in Düsseldorf, wo die Werkself wegen des Umbaus der heimischen BayArena antrat, durfte Bernd für die letzten 13 Minuten ran. Die Erinnerung lebt bis heute fort: „Daran haben nicht alle Neurochirurgen geglaubt. Was ich da erlebt habe, kann ich nicht in Worte fassen. Nur so viel: Das war großartig, das war einmalig, das war phantastisch. Als ich den Rasen betrat, lief mir ein Schauer über den Rücken. Wie mich unsere Fans in diesen Minuten unterstützt und gefeiert haben, das war einer der bewegendsten Momente in meinem Leben. Das werde ich nie vergessen.“

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Letzter Auftritt gegen Gladbach: Beim 5:0 gegen die Borussia bereitete Schnix kurz nach seiner von Standing Ovations begleiteten Einwechslung das 4:0 durch Michal Kadlec vor.

Genauso wenig wie er den 10. Mai 2010 vergessen wird, an dem er in seinem Stadion ein rauschendes Fußballfest feierte. 20.000 Freunde seiner Spielkunst gaben ihm beim Abschiedsspiel die Ehre. Gänsehaut pur. Schnix zog ein Fazit wie’s für ihn, der kein Freund großer Worte oder Gesten ist, typisch ist: „In Leverkusen bin ich glücklich geworden. Die Fans haben mich während der ganzen Zeit ihre Wertschätzung und Zuneigung spüren lassen. Das ist für mich wichtig, denn ich kenne ihre Bedürfnisse ziemlich gut. Ich weiß recht genau, wie sie ticken. Schließlich bin ich ja Jahre lang selbst mitgereist zu den Auswärtsspielen und war immer stolz, wenn ich als Dankeschön ein ‚Hallo‘ zu hören bekam.“

Fast zehn Jahre ist dieser wunderbare Abend jetzt her, doch für viele Bayer-Fans ist’s immer noch wie gestern. Der Name Schneider steht halt stellvertretend für großes Fußball-Kino unterm Bayer-Kreuz. Die Matches gegen ManU, gegen Liverpool, gegen Istanbul, La Coruna, Lyon und Barcelona und schließlich das Finale in Glasgow gegen die „Königlichen“ aus Madrid: Kostbarkeiten aus dem Schatzkästlein, die jeder echte Anhänger bei Bedarf sofort zur Hand hat. Und erst die Namen der Protagonisten, die damals Europa rockten und das Establishment der Superstars aus aller Herren Länder aufmischten: Ballack, Zé Roberto, Bastürk, Placente, Lucio, Ramelow, Kirsten, Neuville – und mittendrin „Schnix“ Schneider, der Junge aus Jena in der Form seines Lebens. „Wir waren das gallische Dorf – mit Calli als Obelix“ hat er sich einmal im Interview mit dem „Kicker“ erinnert. Stimmt, das gallische Dorf. . . Zu solchen Spielen fallen einem halt immer noch neue Bilder und Vergleiche ein.

Damals, nach der traumhaften Good-bye-Party in Leverkusen, war ihm das Herz ein bisschen schwer. Kein Wunder bei all der puren Zuneigung. Das schönste Kompliment legte ihm zweifellos Marcel Reif in einem Beitrag für die aus diesem Anlass produzierte Ausgabe des BayArena-Magazins zu Füßen: „Freude hat er uns gemacht mit seiner Art Fußball zu spielen, zu führen ohne große Gesten, ohne Allüren. So möchte man seine Söhne auf dem Platz erleben. Bernd Schneider, ich habe Sie sehr gemocht. Alles Gute.“

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So möchte man seine Söhne auf dem Platz erlebenBernd Schneider

Bernd lebt längst wieder in Jena. Zuhause. Mit der Mutter seiner beiden Kinder. Es war relativ früh seine Lebensplanung, eines Tages in die Heimat zurückzukehren. Hier leben die Familien, die Freunde, die Kumpels aus den Jugendmannschaften. Ein sportgeprägtes Elternhaus. Sein Verhältnis zu dem Wissenschafts-und Technologiestandort Jena ist ein besonderes. „Schnix“ und seine Leute dürfen sich „Jenenser“ nennen. Im Gegensatz zu den „Jenaern“, die dort wohnen, sind sie auch in Jena geboren. Hier fühlt er sich wohl. Ein Jenenser von Geblüt und Gemüt. Hier ist er nicht der Fußballstar. Hier fühlt er sich wohl in einer bürgerlichen Gemeinschaft. Jena ist hip. Die City wirkt jung und ist immer eine Idee voraus. „Wir leben in einer schönen, blühenden Stadt. Unsere Berge sind zwar nicht mit den Alpen zu vergleichen, aber sie runden das Bild der Landschaft ab“, sagt er. Und die Zahl der Arbeitslosen ist vergleichsweise gering. Diese Feststellung liegt ihm am Herzen.

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Der Fußball mit seinen Facetten hält ihn weiterhin auf Trab und fit. Er ist Mitarbeiter eine Berater-Agentur, kümmert sich um Nachwuchsspieler, denen er seinem reichhaltigen Repertoire so manchen guten Ratschlag vermitteln kann: „Es geht darum, dass die Jungs den nächsten Schritt machen, der freilich auch der richtige sein sollte.“

Der Rücken hält, die Beschwerden sind nicht schlimmer geworden. Sein Befinden lässt regelmäßigen Sport zu. Wichtig! Natürlich spielt er weiterhin mit Freude Fußball. Zweimal wöchentlich mindestens muss der Ball rollen. Dazu ist er aktiv in verschiedenen Traditionsmannschaften, die vorwiegend für einen guten Zweck kicken. Er spielt, wenn sich’s einrichten lässt, in den Farben der Bayer-04-Oldies oder in der durchweg sehr prominent bestückten Uwe-Seeler-Traditionself. Regelmäßig schwingt er den Badminton-Schläger: „Da muss man sich ordentlich bewegen, um mithalten zu können“. Der Vielzweck-Sportler Schneider ist häufig mit seinem Fahrrad unterwegs und spielt momentan zu Hause in der Zeit des Coronavirus viel Tischtennis mit seinen beiden Kindern.

Vor fünf Jahren hat Schnix das Golfspiel für sich entdeckt. Eine Herausforderung für den Einzelsportler, eine andere Erfahrung für den ausgewiesenen Teamplayer: „Im Fußball kannst Du’s auf die Schuhe oder das Wetter schieben, wenn der Pass nicht gelingt. Das geht hier nicht. Ich bin erstaunt, wie viel mir das gibt. Hätte ich das gewusst, hätte ich schon früher damit angefangen.“ Es ist ja nicht zu spät. Immerhin kann sich sein Handicap 13 sehen lassen. Und der Mann ist ja erst 46 Jahre alt.

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Zur Person:

Geburtsdatum und -ort:
17. November 1973 in Jena

Vereine:
Carl Zeiss Jena, Eintracht Frankfurt, Bayer 04

Bundesligaspiele:
296 (263 für Bayer 04, 33 für Eintracht Frankfurt)

Bundesligatore:
39 (35 für Bayer 04, 4 für Eintracht Frankfurt)

Erfolge:
81 Länderspiele für Deutschland, Vizeweltmeister 2002, WM-Dritter 2006, Champions-League-Vize 2002, Vize-Pokalsieger 2002 und 2009, Deutscher Vizemeister 2000 und 2002