Bayer 04 als Start­punkt ins Leben

Erik Zenga

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„Vom Kurtekotten in die Profi-Welt“ – im zweiten Teil der Serie geht es um Erik Zenga.

Mit dem SV Sandhausen kämpft Erik Zenga aktuell um den Klassenerhalt in der 2. Liga. Dass er es bis dorthin geschafft hat, hat viel mit der Nachwuchsarbeit von Bayer 04 zu tun – und zwar nicht nur fußballerisch.

An den Moment, genau genommen den Zufall, durch den sich sein Leben nachhaltig ändern sollte, kann sich Erik Zenga noch genau erinnern. Es ist Sommer 2001 und sein Trainer beim Leverkusener Vorort-Klub BV Bergisch Neukirchen hat eine Frage: „Könntest du dir vorstellen, bei einem Kleinfeldturnier mit den Jungs von Bayer 04 Leverkusen zu spielen? Denen fehlen nämlich Spieler.“ Eriks Antwort: „Klar.“ Und so spielt er das erste Mal im Trikot mit dem Bayer-Kreuz auf der Brust. Einfach so. Seine Mannschaft gewinnt das Turnier.

Ein paar Tage später sitzt Erik mit seiner Mutter im Büro von Leverkusens damaligem U9-Trainer Sven Hehl und darf sich eine Trikotnummer aussuchen. „Ab da war ich stolzer Leverkusen-Spieler“, erinnert sich der heutige Zweitliga-Profi des SV Sandhausen. Und daran hat sich zwölf Jahre lang, von der U9 bis Bayer 04 II nie etwas geändert. Dieser Sommer 2001 war für den damals achtjährigen Erik der Startpunkt in ein neues Leben.

Von Kostroma nach Opladen

Drei Jahre zuvor hatte sich eben jenes Leben auf den Kopf gestellt. Damals lebt der in Moskau geborene Erik mit seiner russischen Mutter noch in Kostroma, 300 Kilometer nordöstlich der russischen Hauptstadt. Weil seine Mutter ins Visier der einheimischen Behörden gerät, entschließt sie sich, mit ihrem fünfjährigen Sohn das Land zu verlassen. Der Vater war schon Jahre zuvor in seine angolanische Heimat zurückgekehrt. In Deutschland beantragen sie Asyl.

In jeder freien Sekunde waren wir draußen, haben Fußball oder Verstecken gespielt

Mutter und Sohn landen 1998 in der Flüchtlingsunterkunft in Opladen, erhalten eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis. „Duldung“ heißt das in Behördensprache. Sieben Jahre bleibt der Status, bleibt die Unterkunft Eriks zu Hause. Was sich nach hartem und ungewissem Leben anhört, ist für ihn eine gute Zeit: „Da waren so viele Kinder. In jeder freien Sekunde waren wir draußen, haben Fußball oder Verstecken gespielt.“

Gemeinsamer Kampf gegen die Ausweisung

Eriks Mutter achtet darauf, dass er in der Schule dranbleibt. Und sie geht gegenüber ihrem Sohn offen mit dem Status in Deutschland um. „Ich wusste immer, dass die Zeit in Deutschland schnell vorbei sein kann.“ Schnell geht es zwar nicht, aber 2005 wird es dennoch ernst. Erik spielt mittlerweile sein fünftes Jahr bei den Bayer 04-Junioren, ist in der U13 angekommen. Eine Ausweisung wird konkreter. „Ohne Übertreibung kann man sagen: Das war dramatisch“, erinnert sich Frank Ditgens, damals wie heute Pädagogischer Leiter im Leverkusener Leistungszentrum.

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Gemeinsam mit Trainern, weiteren Familien und dem väterlichen Freund aus Bergisch Neukirchener Zeiten, Dieter Lucke, setzt Ditgens alle Hebel in Bewegung, dass Erik und seine Mutter bleiben dürfen. Ditgens erinnert sich an abenteuerliche Klettertouren mit Anwalt Peter Dreyer über den Zaun der russischen Botschaft beim Versuch, einen Pass für Erik zu besorgen. Der weiß noch, dass die Eltern eines Mitspielers ernsthaft überlegen, ihn zu adoptieren, um ein Bleiberecht zu erreichen. Am Ende aller Bemühungen steht tatsächlich die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung.

Schrank und Bett als Spende, Trainer als Möbelpacker

Bei Schnitzel und Pommes wird in einem Leverkusener Restaurant gefeiert. „Wir haben uns quasi die ganze Zeit in den Armen gelegen“, so Zenga. Jetzt brauchen die Zengas eine Wohnung, die Mutter einen Job. „Und auch dabei hat Bayer uns unfassbar geholfen“, erzählt Erik. Familien der Mitspieler spenden Möbel, das Trainerteam – allen voran der damalige U13-Trainer Jörg Bittner – helfen beim Umzug. Eine Welle der Hilfsbereitschaft trägt die Zengas in ihren neuen Lebensabschnitt.

Ab jetzt geht es für Erik nur noch um Fußball und Schule. Beides läuft gut. Bei der Werkself durchläuft Zenga alle Nachwuchsmannschaften. Mit der U17 steht er 2010 im Finale um die deutsche B-Junioren-Meisterschaft, das mit 0:1 nach Verlängerung gegen Eintracht Frankfurt verloren geht. Als er seinen deutschen Pass bekommt, klopft auch der DFB an. Auf insgesamt acht Einsätze für die U18- und U19-Nationalmannschaften kommt der defensive Mittelfeldspieler. Am Landrat-Lucas-Gymnasium macht er sein Abitur. „Auch daran hatten die Hartnäckigkeit meiner Mutter und von Bayer 04 großen Anteil“, sagt er rückblickend.

Bleibende Prägung

In der U19 wird der Traum vom Profifußball konkreter. Nach einem Jahr bei Bayer 04 II geht es zum VfL Osnabrück in die 3. Liga, von dort über Preußen Münster zum SV Sandhausen, wo er bis auf eine einjährige Leihe zum Halleschen FC seit 2015 unter Vertrag steht. Die Zeit in Leverkusen aber ist fest und mit klaren Bildern und Namen in ihm verankert. Ausflüge mit den Teams, heiße Spiele gegen den FC Schalke 04 mit Julian Draxler und Kerem Demirbay oder Borussia Dortmund und viele andere große Klubs, Abschlussfahrten, Skiausflüge und vieles mehr haben sein Leben bereichert.

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Die Menschen im Leistungszentrum haben ihn geprägt. „Ehrgeiz, Disziplin, Respekt, klare Ziele - all das hat die Zeit in Leverkusen mir mitgegeben“, sagt der heute 28 Jahre alte Familienvater. „Aber über allem steht, dass ich dank Bayer 04 mit meiner Mutter in Deutschland leben kann, unter den besten Möglichkeiten aufwachsen durfte und ich dieses Land meine Heimat nennen darf.“

Immer wieder kommt Erik Zenga zurück nach Leverkusen, meistens in der Sommerpause. Seine Mutter lebt noch in der ersten Wohnung in Bürrig. Es gibt nach wie vor viele Verbindungen, die alle ihren Ursprung an diesem einen Sommertag im Jahr 2001 haben.

„Vom Kurtekotten in die Profi-Welt“ – Teil I: Gonzalo Castro