Druck auf dem Kes­sel

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Die Auswirkungen der Corona-Pandemie haben auch den fußballerischen Nachwuchs schwer getroffen. Für die U19- und U17-Junioren sind die Einschränkungen an der Schwelle zum Profifußball ein herber Rückschlag – und eine mentale Belastung...

Die wichtigste Botschaft schickt Thomas Eichin fast schon voraus: „Jammern bringt nichts“, sagt der Leiter des Leistungszentrums von Bayer 04 am Kurtekotten. Die Corona-Pandemie und der erneute Lockdown beeinträchtigen auch die Planungen und Arbeit des Nachwuchschefs von Bayer 04 massiv, aber entscheidend für den 54-Jährigen ist die Haltung: aktiv bleiben, nicht in die Opferrolle verfallen, nicht das Schicksal beklagen. „Wir arbeiten hier konzentriert weiter und geben auch die Botschaft aus: ‚Denkt jetzt einfach positiv.‘ Wir gucken, dass wir alle gesund bleiben und machen das Beste daraus“, sagt Eichin.

Das Beste heißt: trotz der erneuten Lockdowns den Trainingsbetrieb zumindest für die oberen Bundesliga-Jahrgänge U19 und U17 aufrechtzuerhalten. Der Ligabetrieb dagegen pausiert erneut seit dem letzten Oktober-Wochenende, ob die Wiederaufnahme im Februar gelingt, ist aufgrund der volatilen Pandemie-Lage und den verhängten weitergehenden Kontaktbeschränkungen weiterhin ungewiss. Schon die vergangene Spielzeit der Junioren-Bundesligen musste wegen des ersten Lockdowns vorzeitig abgebrochen werden.

Doch während in der medialen Öffentlichkeit die Bedingungen und Umstände der Fortsetzung der Fußball- Bundesliga grell ausgeleuchtet wurden, ging ein wenig unter, wie stark der Nachwuchsfußball betroffen war und ist. Insbesondere für die hoch talentierten Spieler der Jahrgänge 2002 und 2003 sind dieser Lockdown, diese Zwangspause, dieses Spielverbot ein herber Rückschlag im persönlichen Streben nach einer Profi-Karriere.

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Die älteren Junioren-Jahrgänge müssen sich in der Corona-Krise mächtig strecken.

„Es ist für den älteren Jahrgang schon extrem schwer“, sagt Thomas Eichin: „Es ist nicht wegzudiskutieren. Die Jungs im letzten Junioren-Jahr brauchen eigentlich die Bühne, um sich zu präsentieren. Es ist ja auch ein wenig das Jahr des Schaulaufens - um sich für den eigenen Klub zu empfehlen, aber ebenso auch für andere Vereine. Das ist ein tiefer Einschnitt.“ Diese Einschätzung bestätigt auch Sportpsychologe Timo Heinze, der seit Januar 2020 für Bayer 04 tätig ist. „Es liegt auf der Hand, dass diese Zwangspause gerade für den älteren U19-Jahrgang vom Timing her alles andere als ideal ist“, sagt der 34-Jährige, der selbst auf eine beachtliche Karriere zurückblicken kann und 2004 Deutscher A-Jugendmeister mit dem FC Bayern München wurde. Heinze weiß also aus eigener Erfahrung, wovon er redet. „Ich glaube, man sollte die Situation jetzt auch nicht zwangsweise versuchen schönzureden. Aber zugleich geht es darum, den Jungs klarzumachen, dass die Ausgangslage, so schwierig sie ist, eigentlich für jeden Spieler in Deutschland gleich ist.“ Die Situation ließe sich mit der richtigen Herangehensweise, so Heinze, einfacher ertragen.

Der Talententwickler Joti Chatzialexiou, Sportlicher Leiter Nationalmannschaften beim DFB, hatte bereits im Spätherbst nach damals achtmonatiger Einschränkung des Betriebes aufgrund der Corona-Pandemie den Vergleich gezogen: „Das gleicht bei jedem Spieler fast schon einem Kreuzbandriss, den er erlitten hat.“ Vom Zeitfaktor her sicher ein angemessenes Urteil, allerdings gibt Heinze dabei zu bedenken: „Wenn man eine Verletzung betrachtet, ist diese individuell. Da hast du als einzelner Spieler einfach einen Nachteil. Du verpasst etwas, kannst dich nicht entwickeln, während die anderen Schritte nach vorne machen. In der Relation fällst du also zurück.“ Doch der Lockdown, so sehr er die Nachwuchsspieler trifft, ist ein egalitäres Thema. „Das Positive, auch wenn es erst einmal negativ klingt: Alle verlieren etwas“, sagt Heinze. „Alle sitzen im selben Boot. Wenn sich die Jungs das klar machen, dann können sie daraus sogar einen Vorteil ziehen, weil sie es schaffen können, mit der Situation besser umzugehen als andere.“

Die Jungs im letzten Junioren-Jahr brauchen eigentlich die Bühne, um sich zu präsentieren.

Eine Frage des Mindsets, wie es heute heißen würde. Sicher auch eine Frage der Mentalität, wie Thomas Eichin und Timo Heinze es nennen würden. „Es geht um Akzeptanz“, sagt Heinze, der den Spielern der Nachwuchsteams jederzeit vertraulich („Es gibt nichts Besseres als eine offene Tür!“) für Austausch und Ratschläge zur Seite steht. Einen allgemeinen Ratschlag hat Heinze darüber hinaus: „Es ist auch eine Kunst, Situationen zu akzeptieren und sich klarzumachen, was ich beeinflussen kann und was nicht. Es ergibt wenig Sinn, unglaublich viel Energie aufzubringen für eine Sache, die ich nicht kontrollieren kann. Lieber sollte ich 100 Prozent an Kraft in die Dinge investieren, die unter meiner Kontrolle sind.“

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Immerhin mit Gegnern auf dem Trainingsplatz: Die Junioren dürfen noch Einheiten absolvieren.

Diese Einstellung wird, wie die Gesellschaft insgesamt, allerdings auf eine harte Probe gestellt. Denn nach dem ersten Lockdown samt Wettkampfpause im Frühjahr 2020 hatte der Sommer die Hoffnung auf eine dauerhafte Entspannung der Situation geweckt – umso härter traf die Beteiligten nun die erneute Zwangspause, die sich nicht allein auf die Bundesligen beschränkt. Der DFB hatte bereits im Herbst alle Lehrgänge und die zahlreichen Sichtungsturniere abgesagt – und schon prophylaktisch darauf hingewiesen, dass es keinen Nachholtermin geben wird.

So wird beispielsweise das nächste U18-Sichtungsturnier im Oktober 2021 ausgetragen. Die FIFA wiederum teilte in den Weihnachtstagen mit, dass die 2020 verschobene WM der U20-Junioren auch 2021 nicht ausgetragen werde – ebenso wenig wie die U17-WM in Peru. Beide Turniere wurden nun direkt auf das Jahr 2023 verlegt. Den Spitzenspielern der betroffenen Jahrgänge wird dadurch die Möglichkeit genommen, internationale Erfahrung zu sammeln.

Der Wettkampfbetrieb im Nachwuchsbereich liegt brach. Was bleibt, ist das tägliche Training der U19 und U17, das aufgrund einer Sondergenehmigung bis dato möglich war - aufgrund der Kontaktbeschränkungen eher individuell als mannschaftstaktisch, wie Eichin erklärt. „Wir tun alles, die Spieler fitzuhalten, dass sie individuell weiter ausgebildet werden – taktisch, technisch und athletisch. Mehr geht halt nicht.“ Dies organisiert Bayer 04 unter strikter Einhaltung der Hygieneregeln, die auch einen veränderten Personaleinsatz, etwa beim Fahrdienst der Spieler, aber eben auch im Einzeltraining erfordern – für Eichin eine Selbstverständlichkeit: „Wir haben dafür zu sorgen, dass es weitergeht.“ 

Du arbeitest auf das Spiel hin, willst drei Punkte holen, eine gute Leistung bringen – diese ganzen Ergebnisziele fallen plötzlich weg, auch im Kopf. Das ist das Schwerste.

Für die unteren Teams und Jahrgänge, bei denen gar kein Training stattfinden darf, bietet Bayer 04 etwa Videokonferenzen an: „Wir geben den Jungs auch individuelle Trainingspläne mit, sodass jeder etwas machen kann.“ Doch bei allen digitalen Möglichkeiten und Anstrengungen gesteht auch Eichin: „Wir planen ja jedes Training so, dass wir – egal ob im jüngeren Aufbaubereich oder im älteren Leistungsbereich – immer anstreben, dass die Spieler mit jeder einzelnen Einheit besser werden. Wenn das Training wegbricht, dann kann das nicht gut sein. Es ist also auf jeden Fall so, dass dir da etwas fehlen wird in diesem Jahr.“  Bei den Jüngeren schon das Training, bei den Älteren der Wettkampf – verbunden mit der Sorge, eine einmalige Benachteiligung zu erfahren, in eben jenem Moment, wo sie einen Profivertrag unterschreiben könnten, einen Klub, eine berufliche Perspektive finden könnten nach vielen entbehrungsreichen Jahren. „Da haben wir schon eine Fürsorgepflicht, um den U19-Spielern den nächsten Schritt offen und ehrlich zu kommunizieren“, sagt Eichin, der zugleich keine Zweifel hegt, dass die absoluten Top-Talente trotz der langen Pause dennoch ihren Karriere-Weg fortsetzen werden: „Die absoluten Ausnahmespieler sind den Trainern, Verantwortlichen oder Scouts anderer Klubs schon vorher aufgefallen. Da gilt das Motto: ‚Da wissen wir schon, was der kann.‘“ Doch gerade die Spätentwickler, jene Spieler, die erst spät im Juniorenbereich große Entwicklungsschritte machen, könnten nun mangels Wettkampf-Möglichkeiten durchs Raster fallen.

Die Sorge mancher jungen Spieler wächst mit jeder Woche der Zwangspause und der Frage ob und wann es in dieser Saison noch einen geregelten Spielbetrieb geben wird. „Der Druck wird sicher etwas zunehmen, und der Kessel sicherlich ein bisschen mehr anfangen zu dampfen“, sagt Timo Heinze. Denn schließlich müssten sich diese jungen Menschen nach Jahren der klaren Struktur auf ein völlig verändertes Muster einlassen: „Du arbeitest auf das Spiel hin, willst drei Punkte holen, eine gute Leistung bringen – diese ganzen Ergebnisziele fallen plötzlich weg, auch im Kopf. Das ist das Schwerste.“ Heinzes Rat: Eigene Prozessziele entwickeln, eigene Zielmarken der Verbesserung setzen, sich ein Stück weit unabhängig machen – oder um es im kernigen Fußballer-Sprech zu sagen: „Das Ding einfach für sich durchziehen.“

 

Die Geschichte ist im Werks11 Magazin Nr. 29 erschienen.