Im Februar kam Mina Tanaka in Deutschland an und betrat eine für sie völlig neue Welt. Es war schon immer ihr Traum, nach sehr erfolgreichen Jahren in der Topliga des Frauen-Weltmeisters von 2011 auch einmal im Ausland zu spielen. Nun verstärkt die Japanerin als Leihgabe des Spitzenklubs INAC Kobe Leonessa bis Saisonende das Team von Bayer 04 in der FLYERALARM Frauen-Bundesliga. Die 26 Jahre alte Stürmerin, die sich schnell eingefügt hat und mehr ist als ein Ersatz für die im Januar zum FC Bayern München zurückgekehrte Ivana Rudelic, möchte sich in Leverkusen auch für eine mögliche Olympia-Teilnahme in Form bringen...
Erst einmal mussten der Jetlag nach dem 14-Stunden-Flug über 10.000 Kilometer und der Zeitunterschied von acht Stunden zur Heimat verarbeitet werden. Danach folgten zwei Corona-Tests, die negativ ausfielen. Und endlich, nach den ersten Tagen in der neuen Umgebung, durfte Mina Tanaka den wichtigsten Teil ihres großen Abenteuers angehen. „Für mich ist es das erste Mal, dass ich bei einem Klub im Ausland spielen kann. Deswegen habe ich natürlich ein bisschen Sorgen, ob alles klappt. Aber meine Freude und meine Erwartung, die Sache gut zu machen, sind größer als die Gedanken, dass ich der Aufgabe nicht gewachsen sein könnte“, sagt Mina Tanaka. „Ich will bei Bayer 04 noch besser werden und mich in der deutschen Bundesliga beweisen.“ Ihr Ziel: Den neuen Leverkusener Teamkolleginnen zu helfen, die laufende Saison mit der bisher besten Liga-Platzierung abzuschließen und sich selbst für ihren großen Traum, den Olympiasieg im eigenen Land, in Topform zu bringen.
Mitte März hatte sie die Gewissheit erlangt, dass ihr Schritt, sich von INAC Kobe Leonessa bis zum Sommer ausleihen zu lassen, richtig war. „Ich wurde gut auf die Situation in Deutschland vorbereitet. Alles hat auf Anhieb geklappt, ich fühle mich gut integriert“, sagte Mina Tanaka. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie mit ihrem 87-Minuten- Einsatz beim überzeugend herausgespielten 4:2-Sieg gegen Potsdam das gezeigt, was sich Achim Feifel erhofft hatte. Vor ihrer Verpflichtung hatte der Cheftrainer der Bayer 04-Frauen beim Videostudium vieler Tanaka-Szenen, aber auch anhand ihrer sehr guten Statistiken erkannt, dass die Japanerin eine Verstärkung wäre. „Mina ist tatsächlich ein großer Gewinn für uns. Sie ist technisch sehr stark, hat beidfüßig einen platzierten Schuss, den sie auch mutig einsetzt, und findet instinktiv die richtigen Laufwege und Räume. Dazu hat sie noch ein Auge für ihre Mitspielerinnen“, zählt Feifel die Qualitäten der neuen Bayer 04-Stürmerin auf. „Wie schnell und gut sie sich bei uns eingefügt hat, ist schon außergewöhnlich."
Auch die Integration außerhalb des Spielfelds funktionierte auf Anhieb. In der Wohngemeinschaft mit Verteidigerin Henrike Sahlmann fühlt sie sich ebenso gut aufgehoben wie im Klub. Auch deswegen blieb ein Kulturschock aus, obwohl viele Bräuche und Sitten im Land der aufgehenden Sonne sich recht deutlich von denen in Mitteleuropa unterscheiden. Sprachlich hapert es noch, Übersetzer und Video-Analyst Kiyoshi Horigome hilft vor allem, wenn Feifel taktische Dinge erklärt. „Ich habe schnell verstanden, worum es geht. Sich die üblichen Fußball-Begriffe zu merken, ist ja auch nicht schwer. Links, rechts, schieß‘, spiel’ ab – das war schnell klar. Etwas gedauert hat es, bis ich verstanden habe, was das Wort ‚Quatsch‘ bedeutet“, sagt Tanaka und lacht. „Aus meiner Zeit in Russland weiß ich, wie schwierig es sein kann, sich in einem ganz neuen Umfeld zu verständigen“, erklärt Feifel. „Aber Mina hat das schnell hinbekommen. Das liegt auch daran, dass sie ein freundlicher Mensch ist. Sie kommt in der Mannschaft gut an“, ergänzt der Trainer. Tanaka kann dies umgekehrt bestätigen. „Ich fühle mich sehr wohl. Ich habe sofort das Vertrauen gespürt, das man mir gibt und in mich setzt“, sagt sie.
Tanaka tritt bescheiden auf, typisch japanisch sozusagen, dabei gehört die 1,61 Meter große Stürmerin in ihrer Heimat zu den Topstars des Frauenfußballs. Erst im vorigen Jahr nach ihrem Wechsel zu INAC Kobe Leonessa wurde sie Vollprofi und konzentrierte sich ganz auf das Fußballspielen. Zuvor hatte sie seit 2011 für Verdy Beleza, einem von Nippon TV gesponserten Klub aus Tokio gespielt – und zwar höchst erfolgreich. Als Halbprofi – Tanaka ging bis zum Mittag einer zusätzlichen Arbeit nach - wurde sie von 2015 bis 2019 fünf Mal nacheinander Meister, vier Mal wurde sie dabei sogar Torschützenkönigin der Nadeshiko League mit beeindruckenden Quoten: 2016 (18 Tore in 18 Spielen), 2017 und 2018 (jeweils 15/18) sowie 2019 (20/16). Auch international errang Tanaka große Erfolge: 2018 wurde sie mit der Nationalmannschaft Asienmeister, 2019 führte sie ihren Klub Verdy Beleza als Kapitänin zum Triumph in der asiatischen Champions League.
Aber es gab einen kleinen Bruch in ihrer ansonsten so erfolgreichen Karriere. 2019 wurde sie nicht in den Kader für die WM in Frankreich berufen. Für das Nippon-Team hat sie in den vergangenen acht Jahren in 42 Spielen 16 Tore erzielt. Nationaltrainerin Asako Takakura ließ sie dennoch links liegen, was heftige Kritik von Fans und Experten auslöste. Und die WM endete mit einer großen Enttäuschung. Die Japanerinnen, die bei der WM 2011 in Deutschland erstmals den Titel gewonnen hatten und 2015 in Kanada Vize-Weltmeister geworden waren, scheiterten im Achtelfinale mit 1:2 an den Niederlanden. Nicht nominiert zu werden, das nahm sich Tanaka vor, soll ihr nicht noch einmal passieren. Und nun steht ausgerechnet Olympia im eigenen Land vor der Tür, im Frauenfußball das noch wichtigere Ereignis als eine WM. „Ich glaube, dass wir die Möglichkeit haben, Deutschland als Olympiasieger abzulösen, nachdem wir physisch gegenüber Teams wie den Amerikanerinnen aufgeholt haben. Es gibt keinen Grund, nicht von dieser Chance auf die Goldmedaille überzeugt zu sein“, sagt Tanaka. Allerdings sorgt sie sich ein wenig, dass Olympia wie schon im vergangenen Jahr abgesagt werden könnte.
Wie viele andere Sportlerinnen weltweit wurde auch Tanaka durch die Corona-Pandemie gestoppt. 2020 ist sie nach 164 Toren in 154 Pflichtspielen von ihrer Mannschaft Verdy Beleza („Die Schönheit“) in das 500 Kilometer entfernte Kobe zu Leonessa („Die Löwinnen“) gewechselt, einem Klub mit großen Ambitionen. Doch die Pandemie machte es unmöglich, auch bei ihrem neuen Klub perfekt zu performen. Nach wenigen Spieltagen wurde die Saison abgebrochen. Somit blieben Mina Tanaka nur einige Länderspiele, um die Nationaltrainerin zu überzeugen, dass sie in den Olympia-Kader gehört. Und genau das will sie nun auch bei Bayer 04 beweisen. „Ich will an erster Stelle meinem neuen Verein und meinen Mitspielerinnen helfen. Aber mich in Form zu bringen, ist auch ein wichtiges Ziel für mich“, schildert Tanaka ihre Ambitionen. Möglich geworden war ihr Transfer auch deshalb, weil die japanische Liga pausiert und die nächste Spielzeit erst nach Olympia in der neuen Superliga beginnen wird.
Tanaka spürt, dass das intensive Training bei Bayer 04 und die Bundesligaspiele sie nach vorne bringen. „Zwischen der Bundesliga und der japanischen Liga bestehen vor allem körperliche Unterschiede. Hier sind alle Spielerinnen Spielerinnen robuster, ich muss mich gegen stärkere Abwehrspielerinnen durchsetzen. Und es wird schneller nach vorne gespielt“, erklärt sie. Im Umschaltspiel liegt aber auch ihre spezielle Stärke, ein Grund, warum sie sportlich so gut zurechtkommt. „Es ist für mich eine großartige Erfahrung, hier Fußball zu spielen“, sagt Tanaka. „Ich habe bei Kobe Leonessa noch einen Vertrag für die nächste Saison, aber wenn er endet, würde ich gern wieder für Leverkusen spielen“, betont sie. Ihr Trainer macht sich auch seine Gedanken. „Wenn sie unbedingt bleiben möchte, obwohl sie einen laufenden Vertrag hat, könnte sich eventuell eine Lösung finden lassen. Wir wollen unseren Kader ja verstärken“, sagt Feifel. „Fest steht, dass Minas Entwicklung bei uns total positiv ist – sportlich und menschlich.“