Es gibt immer einen Gr(o)und

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Sie sind eine besondere Spezies unter den Fußballanhängern. Sammeln Punkte für jeden neuen Platz, den sie besuchen. Schauen sich dafür auch Kreisliga-C-Spiele an, stehen vor allem auf alte Stadien und reisen um die ganze Welt. Groundhopper ticken anders als andere Fans. Marius Eversmann ist einer von ihnen. Wir haben den 37-jährigen Leverkusener und zwei Hopper-Kollegen auf einer Tour begleitet.

Sonntagvormittag, kurz vor halb zwölf. Durchs offene Fenster seiner Wohnung in Küppersteg murmelt Marius mir ein noch verschlafen klingendes „Morgen, komme gleich runter“ zu. Wir haben uns verabredet, um gemeinsam zum Fußball zu fahren. Unser Reiseziel heißt Belgien. Wo genau es hingeht, wissen wir noch nicht. „Irgendein Spiel in der 6. Liga, Teddy wird uns gleich mitteilen, welches“, sagt Marius, als er nun dick eingepackt in eine Winterjacke und mit Rucksack auf dem Rücken vor mir steht. Teddy ist inzwischen eingetrudelt, er hat den Trip geplant und wird heute fahren. „Also, wohin denn nun?“ fragen wir ihn, während wir in seinen silbernen Opel Astra steigen. Teddy kramt einen Zettel aus der Hosentasche und reicht ihn mir nach hinten. Ich lese: KVV Zepperen-Brustem vs KVV Weerstand-Koersel, 1. Provinciale Limburg, Stadion Het Dekken, Sportpleinstraat, 3800 Sint Truiden.

Ah ja, klingt spannend, denke ich. „Sint Truiden ist eine Kleinstadt zwischen Hasselt und Lüttich“, klärt uns Teddy auf. „Knapp zwei Stunden Fahrt, offiziell passen 4.000 Zuschauer ins Het Dekken.“ So viel zu den Basic Facts. Am allerwichtigsten aber ist etwas anderes: In diesem Stadion in der Provinz Limburg sind Teddy und Marius noch nie gewesen. Und weil sie als Groundhopper nun mal Stadien „sammeln“ wie andere Leute CDs, Briefmarken, Münzen oder sonstwas, wollen sie an diesem Sonntag genau diesen „Ground“ in Sint Truiden ihrer Sammlung hinzufügen.

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Willkommen in Sint Truiden: Marius, Teddy und Marcel vor dem Stadion „Het Dekken"

Für Teddy wird es - der Zufall will es so - der 1904. Ground seiner Hopping-Karriere. Und das nur, weil er gestern schon in Belgien unterwegs war, spontan zwei Grounds gemacht hat und nun also tatsächlich vor dem speziellen Jubiläum steht. Eigentlich fährt er selten nur für ein Spiel so weite Strecken. Meist versucht er einen Doppler, zwei Spiele hintereinander, oder gar einen Dreier hinzukriegen, damit sich der Aufwand lohnt. Aber sein 1904. Ground ist ihm die Reise wert. Zumal Teddy ein absoluter Belgien-Fan ist. In den ersten drei Ligen hat er schon alle Stadien besucht, 40 an der Zahl. In der vierten Liga fehlen ihm auch nur noch fünf von insgesamt 64 Stadien. „Warum gerade Belgien?“ frage ich ihn. „Weil es hier wunderschöne alte Grounds gibt“, antwortet Teddy und zählt gleich ein paar seiner Lieblingsstadien auf: das Mijnstadion vom FC (heute KVK) Beringen („mit fünf verschiedenen Tribünen“), das Stade du Buraufosse des FC Tilleur, („riesengroß, mit Satteldach-Tribüne, Holzbänken und einer Stehplatz-Gegengerade“) oder das Constant-Vanden-Stock-Stadion des RSC Anderlecht („mitten in der Stadt, umgeben von den typisch-belgischen Häuserzeilen“). 

Weil Teddy panische Flugangst hat, kommt er bisher auf „nur“ 25 Länderpunkte. Das heißt, er hat mindestens jeweils ein Stadion in 25 Ländern besucht. Das ist für einen Groundhopper nicht viel. Marius zum Beispiel bringt es auf 55 Länderpunkte. Und selbst damit wird er in der inoffiziellen Groundhopper-Rangliste noch unter „ferner liefen“ geführt. „Inzwischen haben zwei Kaiserslauterer Hopper die 200er Ländermarke geknackt“, sagt Marius. Deren Ziel sei es, alle 211 Mitgliedsverbände der FIFA „zu machen“.

Marius hängt immer noch ein bisschen in den Seilen. Auch er war natürlich gestern schon in Sachen Fußball unterwegs gewesen. Morgens um 6 hatte er den ICE nach Freiburg bestiegen, sich dort mit seinem Kumpel Richard aus Leeds getroffen, ein paar Bierchen getrunken und sich dann mit ihm ins Schwarzwald-Stadion aufgemacht, um die Werkself anzufeuern. Marius ist Bayer 04-Fan durch und durch. In der vergangenen Saison hat er wieder eine 34er Serie hingelegt, also sämtliche Ligaspiele der Schwarz-Roten live vor Ort gesehen. Und wann immer es geht, verbindet er die Reisen zu den Auswärtsspielen seines Klubs mit einem Abstecher zu einem anderen Ground. So auch diesmal. Direkt nach dem 0:0 in Freiburg machte sich Marius mit Andi, einem weiteren Freund aus der Hopper-Szene, mit dem Auto auf die Fahrt nach Straßburg. Um 20 Uhr würde dort die Partie Racing Straßburg gegen Girondins Bordeaux angepfiffen. Eine halbe Stunde vor Spielbeginn kamen die beiden an. „Ein geiles Spiel in toller Atmosphäre“, nuschelt Marius, der dafür die kurze Nacht, die ihm bevorstehen würde, gern in Kauf nahm. Erst um kurz vor sieben am Sonntagmorgen war er wieder zu Hause. Geschlafen hatte er im Zug kaum, und im eigenen Bett blieben auch nur vier Stunden, bevor es mit uns weiter nach Belgien ging.

Mir ist das alles viel zu kommerziell geworden

An einer Tankstelle in Köln gabeln wir Marcel auf, der Teddy auch gestern schon nach Belgien begleitet hatte. Eigentlich ist Marcel Fan des VfL Bochum. Aber seit einigen Jahren fühlt er sich in der Hopper-Szene wohler. In der Bundesliga kenne er kaum noch Spielernamen. „Mir ist das alles viel zu kommerziell geworden“, sagt er. Und Teddy, der bis 2008 noch eine Jahreskarte für die BayArena besaß, pflichtet ihm bei: „Heute spielt doch das Geld die Hauptrolle. Darauf haben wir einfach keinen Bock mehr.“ 

Wir sind auf der A4 kurz vor Aachen, Marius pennt noch ein Ründchen, draußen schneit es jetzt stärker und drinnen beschlagen die Scheiben im fast 20 Jahre alten Astra. Die Lüftung allein kriegt das Problem nicht gelöst, also öffnet Teddy ab und an die vorderen Scheiben. Es könnte ein ungemütlicher Nachmittag werden. „Das Spiel wird aber in jedem Fall stattfinden, die Belgier stellen sich da nicht so an“, sagt Teddy, der sich natürlich vorher im Netz informiert hatte, ob irgendwelche Absagen drohen könnten in der sechsten belgischen Liga. Wäre ja auch zu blöd, wenn man nach 170 Kilometern vor einem gesperrten Platz stünde.

Etwa auf halber Strecke - eine SMS auf meinem Handy heißt mich gerade „herzlich willkommen in Belgien“ - fahren wir kurz runter von der Autobahn. Zeit für die Mittagspause. Wie immer, wenn’s in die Provinz Limburg geht, kehren die drei Groundhopper in einer Frituur in Eynatten ein. Belgische Fritten sind nun mal Kult und gehören unbedingt zu einer Tour dazu. Wir ordern also Fritten mit Frikandeln, diverse Saucen und ein paar Kaltgetränke. „Teddy besaß in dieser Bude schon mal ein 10er-Bonusheftchen, weil er so oft hier ist“, flüstert Marcel mir zu. „Bei der elften Bestellung gab’s dann ein Menü umsonst.“

Beim Essen erzählt Marcel von seinem Job als Restaurator im Historischen Archiv der Stadt Köln. Dort stellt er in aufwendigen Verfahren den alten Zustand von Büchern, Fotos und Urkunden wieder her. Letztere zum Beispiel werden unter Zuführung von Papierfaserbrei und Wasser in einem Spezialgerät bearbeitet. „Das Wasser entziehen wir später wieder durch ein Siebgewebe“, erklärt Marcel. Kein Wunder, dass jemand wie er, der sich beruflich der Bewahrung historischer Dokumente widmet, ein Faible für alte Stadien hat. Und die findet er natürlich nicht nur in Belgien. Auch in Ostdeutschland ist Marcel viel und gerne unterwegs. Weil ihn einfach die Geschichte von Vereinen wie Kali-Werra Tiefenort, Union Mühlhausen oder FC Eisenach interessiert. „Wir versuchen vor Ort immer, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, weil es für viele Klubs im Osten ja um puren Überlebenskampf ging und oft immer noch geht. Ist einfach spannend zu erfahren, wie sie sich dort über Wasser halten.“

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Das „Stadion im Kaffeetälchen" des FSV Kali-Werra Tiefenort hat schon bessere Zeiten erlebt.

„So, du Historiker“, grätscht Marius dazwischen,  „jetzt sag mir mal, welches Stadion weltweit über die erste Rasenheizung verfügte. Na?“ - Marcel muss passen und zuckt mit den Schultern. „Der Goodison Park vom FC Everton in Liverpool“, sagt Marius mit lässiger Experten-Miene. „Eines der ältesten Stadien der Welt, 1892 eröffnet.“

Ich bin mit echten Fußball-Nerds unterwegs, das ist mir längst klar. Aber jetzt fängt die Sache an, mir richtig Spaß zu machen. Die Jungs reden von Stadien wie von guten alten Freunden. „Kennt ihr das Kenilworth Road Stadium von Luton Town?“, fragt Marius in die Runde. „Noch so ein altes Schätzchen mitten in einem Wohngebiet.“ Seine absolute Nummer eins ist aber das Giuseppe-Meazza-Stadion. „Das ist doch eine stinknormale, viel zu große Betonschüssel“, mosert Teddy. „Quatsch, allein die Treppenaufgänge in den Türmen sind architektonisch ein Hingucker“, kontert Marius. Marcel bringt das Stimberg-Stadion in Erkenschwick ins Spiel. „Das hieß früher mal Hindenburg-Kampfbahn und ist auch schon von 1929.“

Für manche sind Groundhopper die größten Freaks im Fußball-Universum. Irgendwie Getriebene, die sich ruhelos auf die Suche nach dem nächsten Platz begeben. Sammelwütige Käuze, die penibel Buch führen und Listen pflegen, auf denen alle noch so kleinen Grounds festgehalten werden. Für andere sind sie die letzten Fußball-Romantiker, die wahren Fans dieses Sports, denen man gerne zuhört, wenn sie von ihren Abenteuern in den entlegensten Kaffs dieser Welt erzählen.

Marius ist so ein Abenteurer, der ein Buch schreiben könnte über seine Erlebnisse. Die kurze Mittagspause hat ihm offensichtlich gutgetan, er wird redseliger, während wir weiter auf der E40 Richtung Lüttich fahren. 2005, beim Länderspiel zwischen Nordirland und Deutschland, hat ihn das Fieber gepackt. Im Windsor Park in Belfast traf der Leverkusener zum ersten Mal einige Groundhopper - und war dermaßen angefixt von dieser „Lebensform“, dass er nun selber loswollte. Raus in die Welt, raus auf die Grounds - egal, ob Kreisliga C oder Champions League, ob Sportplatz Krebauel in Marialinden oder White Hart Lane in London. Auf einmal genügten ihm Spiele mit Bayer 04-Beteiligung nicht mehr. Und auch auf Wochenenden wollte er sich nicht beschränken. Als Student der Sozialpädagogik nutzte er die Semesterferien, später im Job fast jeden Urlaub für seine Fußballreisen. Einmal, im August 2010, besuchte er 34 Spiele an 31 Tagen - „ich wollte einfach an jedem Tag mindestens eine Partie sehen“, sagt Marius. Dafür tourte er kreuz und quer durch Deutschland, Liechtenstein und Österreich. Hamburg, Würzburg, Gelsenkirchen, Berlin, Sandhausen, Weimar, Biel, Jena, Ingolstadt, Pirmasens, Trier, Vaduz, Lustenau und so weiter und so fort. Vier Bayer 04-Spiele fielen auch in diesen Zeitraum. Am 31. August krönte das Kreispokalspiel zwischen Eintracht Duisburg und SC Croatia Mülheim den Höllenritt, den Marius fast ausschließlich mit der Bahn zurückgelegt hatte - manchmal zusammen mit befreundeten Hoppern, manchmal auch als „lonesome rider“.

Wir sind halt ein bisschen verrückt
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Skurrile Fans gibt's überall: In Johannesburg traf Marius dieses Exemplar.

„Wir sind halt ein bisschen verrückt“, sagt Marius und muss schmunzeln. „Es gibt da so ein paar Groundhopper-Grundsätze, einer lautet: Wenn’s einfach wäre, wär’s kein Groundhopping. Ein anderer: Es muss ja sowieso alles gemacht werden.“

Ein Satz von fast philosophischer Tiefe, denke ich. Und in gewisser Weise beantwortet er die Frage, die der eigentliche Anlass meiner Mitfahrt ist: Warum zur Hölle tut man sich an einem nasskalten Sonntag ein Spiel der sechsten Liga in Belgien an? Mir dämmert, dass nur Ahnungslose eine solche Frage stellen würden. Mit Groundhoppern verhält es sich eben wie mit Bergsteigern. Die fragt man auch nicht: Warum steigt ihr auf diesen Berg? Sie würden antworten: Weil er da steht! 

Kurz vor halb drei biegen wir in einem Wohngebiet rechts ab auf die Sportpleinstraat. Es hat aufgehört zu schneien. „Sie haben ihr Ziel erreicht“, sagt die Stimme von Teddys Navi. Vor uns liegen der Parkplatz und das „Stadion“ Het Dekken. Die schmalen Flutlichtmasten werfen ein spärliches Licht auf den Rasen, auf dem sich gerade die Mannschaften warmmachen. Wir gehen zum weißen Kassenhäuschen vor dem Klubhaus, auf dem das lila Logo des KVV Zepperen-Brustem prangt. Die Eintrittskarte kostet zehn Euro, wobei die Zehn mit Kugelschreiber über den eigentlich aufgedruckten Preis von acht Euro geschrieben ist. Ganz schön happig für ein Spiel in dieser Klasse, wo es doch in der BayArena die günstigsten Vollzahler-Tickets schon für 15 Euro gibt. „Wahrscheinlich ein Topspiel-Zuschlag“, flachst Teddy. Der Kartenkontrolleur schaut irritiert, als er uns reden hört. Wo wir herkommen, möchte er wissen. Aus Deutschland, sage ich. „Schalke?“ fragt er. „Nee, Leverkusen.“ „Seid ihr Scouts?“ Mannomann, denke ich, wird das hier ein Verhör? Scouts?! Wir - dass ich nicht lache. „Nee“, sage ich schon wieder. „Was wollt ihr dann hier?“ fragt der Kontrolletti jetzt und legt ein freundliches, aber irgendwie auch skeptisches Lächeln auf. „Einfach nur Fußball gucken.“ - Jetzt scheint der Kartenmann vollends verwirrt, er grinst und als wir ihn stehen lassen und Richtung Platz marschieren, sehe ich ihn aus dem Augenwinkel ungläubig den Kopf schütteln.

Dialoge ähnlicher Art habe er schon Dutzende geführt, sagt Marius. Einmal, auf irgendeinem Platz in Mönchengladbach, sei er von einem kleinen Jungen angesprochen worden. „Seid ihr Gästefans?“ - „Nein.“ - „Spielerbeobachter?“ - „Nein.“ „Was macht ihr dann hier?“ - „Wir sammeln Plätze.“ Als der Junge ihn entgeistert anstarrte und - den Tränen nahe - fragte: „Wollt ihr jetzt unseren Platz kaufen?“, klärte Marius die Situation auf.

Weil das Spiel erst in einer halben Stunde angepfiffen wird, bleibt noch genügend Zeit für eine kleine Groundinspektion. Ein Ritual, das eigentlich bei keiner Tour fehlen darf. Schafft man natürlich nicht immer als Hopper. Manchmal reicht’s gerade pünktlich zum Anpfiff. Wir aber liegen gut im Rennen, spazieren also gemächlichen Schrittes am Spielfeldrand entlang. Vorbei am weißen, hüfthohen Zaun, der die Rasenfläche begrenzt. Würde man sich Tore und Kreidelinien wegdenken, könnte es auch eine Pferdekoppel sein. Marcel zieht wie immer, wenn er bei einem Ground ankommt, eine dicke Zigarre aus der Jackentasche, zündet sie sich an und pafft so genüsslich, als hätte er gerade einen Big Deal abgeschlossen. Dann holt er seine Digitalkamera aus dem Rucksack und schießt die ersten Fotos von der einzigen überdachten Tribüne. Holzbänke auf Betonstufen, aus deren Ritzen das Gras sprießt. Flutlichtmasten, Häuserreihen im Hintergrund. Alles muss schließlich für die eigene Buchführung dokumentiert werden. Marcel ist ganz in seinem Element. Wenn er könnte, würde er all diese alten Steine, Mauern und Tribünen hegen und pflegen und vor dem Untergang bewahren, wie er alte Akten und Urkunden restauriert. Grounds wie das „Het Dekken“, die bei „normalen“ Fans eher ein Gefühl der Tristesse wecken, lassen bei ihm das Hopper-Herz höher schlagen. „Ja, ich bin ein Nostalgiker“, sagt Marcel. „Jeder dieser Grounds erzählt seine eigene Geschichte.“ Es sind aber nicht nur die Spielstätten, die den 30-Jährigen faszinieren. Auch kleine Klubs mit großer Vergangenheit wie Westfalia Herne, Schwarz-Weiß Essen und Preußen Münster liegen ihm am Herzen. Kultkicker wie „Jule“ Ludorf, der „Himmelsstürmer“ der Spvgg. Erkenschwick aus den 40er und 50er Jahren, sind ihm näher als die Aubameyangs der Jetzt-Zeit, die er nicht mal aussprechen kann.

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Teddy ist ähnlich gestrickt. Seit ziemlich genau 25 Jahren geht der Leverkusener seiner Hopper-Leidenschaft nach. Sein erstes Mal? „30. April 1993, Standard Lüttich gegen KAA Gent, Ergebnis: 8:4“, antwortet er wie aus der Pistole geschossen. „So ein Spiel vergisst man nicht.“ Seit vielen Jahren gibt Teddy ein eigenes Fanzine für Groundhopper heraus. In seinen „Terrace Tales“ - Tribünengeschichten - erzählt er ausführlich von seinen Touren durch Europa, vor allem von den Grounds in Belgien und Tschechien, seinen Lieblingsländern, was den Fußball betrifft. Der Ligafußball in Tschechien ist wie für Groundhopper gemacht. Wer es geschickt einfädelt, kann hier an einem Tag fünf Spiele schaffen. In manchen Ligen wird nämlich bereits um 10.15 Uhr angepfiffen. Und dann geht es bis abends schön weiter im Takt. Ein Traum! Muss natürlich perfekt geplant sein, das Ganze. Fünf auf einen Schlag - das ist schon die hohe Kunst der Hopper-Schule. Teddy hat sich die volle Dröhnung noch nicht gegeben, sein persönlicher Rekord liegt bei vier Spielen.

Das Spiel zwischen KVV Zepperen-Brustem und KVV Weerstand Koersel läuft inzwischen. Wir haben uns hinter dem Tor der Gastgeber an den Zaun gelehnt. Auf dem tiefen Rasen, der an manchen Stellen eher einem Acker gleicht, entwickelt sich ein ganz flottes Spiel auf ansehnlichem Niveau. Die beiden Teams schenken sich nichts und kommen vor allem über den Kampf. Es gibt wenig Torraumszenen. Die Stimmung - na ja… Das Het Dekken fasst offiziell 4.000 Zuschauer. Wir schätzen, dass höchstens 200 gekommen sind. Zur Pause gehen Marius und ich ins Klubhaus, trinken ein paar Jupiler-Biere und wärmen uns auf. Marcel und Teddy bleiben noch draußen. 

Ziel war es, mit Bus und Bahn ein wenig über den Balkan zu tuckeln

Die Halbzeit gerät spannender als die 45 Minuten zuvor, weil Marius von seinen Touren durch die Welt erzählt. Von Spielen in Südafrika, wo sein Bruder seit Jahren mit seiner Famlie lebt. 2014 war er für zwei Wochen dort, sah schräg verkleidete Fans beim Duell der Orlando Pirates gegen Polokwane City in Soweto und nutzte die Gelegenheit für einen Abstecher nach Botswana, um sich in Gaborone ein Länderspiel der Gastgeber gegen Ägypten anzuschauen. Dann redet Marius über die logistischen Herausforderungen einer Reise durch zehn Länder innerhalb von 14 Tagen. „Ziel war es, mit Bus und Bahn ein wenig über den Balkan zu tuckeln.“ Auf „soccerway.com“ arbeitete er sich eine grobe Route aus, die ihn von Fürth über Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Serbien, die Türkei bis Griechenland führen würde. Als exotisches Highlight buchte er im Zug von Sofia nach Nis (Serbien) auch noch einen Kurztrip in den Libanon, um dort in der Nähe von Beirut die Pokalpartie zwischen Al Ansar und Al Ahaed zu gucken. „120 Minuten lang fielen keine Tore, dann aber im Elfmeterschießen umso mehr. Erst trafen alle. Dann keiner. Dann wieder alle, dann wieder keiner... So endete die Partie nach insgesamt 28 Elfmetern mit 9:8 für Al Ansar.“ Und Marius freute sich über seinen Länderpunkt Nr. 52.

Natürlich läuft auf den Reisen des Fußball-Globetrotters nicht immer alles glatt. Verspätungen bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und sonstige Widrigkeiten bei der Anreise sind eher die Regel als die Ausnahme und erfordern viel Flexibilität, Improvisationstalent und Nervenstärke. „Das macht aber auch einen Teil des Reizes aus“, sagt Marius. Auf ein Erlebnis aber hätte er gerne verzichtet. Am 25. März 2012 erwischte es ihn auf Zypern richtig hart. Er war mit ein paar Freunden unterwegs im Auto, saß hinter dem Fahrer, als ein anderer Wagen die Vorfahrt missachtete und ihnen voll in die Seite reinrauschte. Marius erlitt einen Oberschenkelbruch, eine schwere Gehirnerschütterung, Schnittwunden und mehrere Rippenbrüche. Zwei Nächte lag er auf Zypern im Hospital, dann war er bereit für den Flugtransport nach Deutschland, wo er nochmal acht Wochen im Krankenhaus verbrachte, weil es Komplikationen gab. „Eine echt üble Sache“, sagt Marius. Immerhin bekam er nach dem Unfall ein hübsches Sümmchen Schmerzensgeld von der Versicherung, „das für eine richtig dicke Tour reichen sollte“. So flog Marius 2015 für zwei Wochen nach Nordamerika, kombinierte die USA mit Kanada und den Turks and Caicos Islands, ein Inselparadies in der Karibik. Es dürfte nicht allzu viele Groundhopper mit einem Turks-and-Caicos-Islands-Länderpunkt geben. „Das Pokalspiel zwischen Rozo FC und Cheshire Hal war durchaus unterhaltsam. Zwischenzeitlich waren immer neue Spieler eingetrudelt, so dass etwa ab der 30. Minute auch elf gegen elf gespielt wurde. Allerdings hielt das nicht lange, weil es in der Mitte der zweiten Halbzeit zu einer Massenkeilerei auf dem Platz kam und etliche Spieler die Rote Karte sahen.“

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Marius beim Championship Playoff-Finale zwischen Derby County und den Queens Park Rangers

Apropos zweite Halbzeit. Die hat auch bei uns längst wieder angefangen, wir sitzen aber immer noch im Klubhaus und beschließen, das Spiel von hier aus zu Ende zu gucken. Ist saukalt draußen und die großen Fensterscheiben geben ja den Blick aufs komplette Feld frei. Für manche Hardcore-Hopper wäre das ein absolutes Tabu. In ihren Augen hätte man keinen Groundpunkt verdient, wenn man nicht die kompletten 90 Minuten draußen verfolgt. Gut, dass Marius, Teddy und Marcel nicht zu den Puristen zählen. Ein offizielles Regelwerk gibt es ohnehin nicht. Allerdings gelten in der Szene einige ungeschriebene Gesetze: Einen Groundpunkt erhält nur, wer ein Spiel über die volle Distanz gesehen hat. Eine Halbzeit reicht nicht. Bei kleineren Verspätungen (etwa aufgrund der Verkehrssituation) zählt der Punkt dennoch – man will ja nicht päpstlicher als der Papst sein.  Die Partie sollte ein Pflichtspiel sein. Welche Liga ist egal. Nur bei Ländervergleichen reichen auch Freundschaftsspiele.

Auf unserem Ground beharken sich die Jungs aus Zepperen-Brustem und Weerstand Koersel weiterhin mit großer Leidenschaft. Kurz vor dem Ende treffen die Gastgeber tatsächlich doch noch und sorgen damit für ein bisschen Stimmung auf den Rängen und im Klubhaus. Am Ende bleibt es beim 1:0-Sieg der Heimmannschaft, die damit im unteren Mittelfeld der Provincale-Tabelle punktemäßig gleichzieht mit Weerstand Koersel. „War doch ein ordentlicher Kick“, sagt Marius. Marcel und Teddy nicken zustimmend. Dann ziehen wir unsere Jacken an, gehen zum Parkplatz und machen uns auf den Heimweg. Ohne Pause, ohne Fritten. Aber schon mit den Plänen für weitere Touren im Kopf - jedenfalls was Marius, Marcel und Teddy betrifft. Es gibt noch so viele weiße Flecken auf ihrer Hopper-Weltkarte. Südamerika zum Beispiel, mit all seinen prickelnden Derbys in Chile und Argentinien. Ach, und es muss ja sowieso alles gemacht werden. Irgendwie. Irgendwann.

 Christian Jacobs