Tor­jä­ger, Malo­cher, Fan-Lieb­ling: Legende Kies

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Zwölf Jahre lang trug er das Trikot mit dem Kreuz auf der Brust. 131 Bundesliga-Tore erzielte Stefan Kießling in 344 Spielen für Bayer 04. Insgesamt brachte es Kies auf 402 Partien in der höchsten deutschen Spielklasse (davon 59 Einsätze für den 1. FC Nürnberg). Im Mai 2018 beendete die langjährige Nr. 11 der Werkself ihre große Karriere. Mehr als ein Jahrzehnt hat Stefan Kießling die 40-jährige Bundesliga-Geschichte von Bayer 04 mitgeprägt. Grund genug, noch einmal auf seine außergewöhnliche aktive Laufbahn zurückzublicken.

Bevor damals in den 80er Jahren die Bagger und Bauleute anrückten, um auf den Fundamenten des alt und müde gewordenen Haberland-Stadions die neue BayArena zu errichten, machten sich in und rund um Leverkusen engagierte Naturschützer öffentlich zu Fürsprechern von allerhand Getier, das auf diesem Areal schon seit langem heimisch war und dem nun die Vertreibung drohte. Altgediente Bayer 04-Fans werden sich womöglich erinnern. Eine sehr spezielle Gattung hat über die Jahre alle Anfechtungen überlebt und erfreut sich bis dato bewundernswerter Vitalität. Der heimische Zaunkönig (Troglodytes troglodytes), als bis zu neun Gramm schwerer und bis zu elf Zentimeter langer Winzling der drittkleinste Vogel seiner Art in Europa, wird in seiner menschlichen Erscheinungsform gerade hier, in der lauten Nordkurve des „Wohnzimmers“ der Werkself, bei Gelegenheit immer wieder stürmisch gefeiert. Wie der vom Aussterben bedrohte „Vogel des Jahres 2018“, der Star, ja wie ein Superstar.

Es ist erstaunlich, dass in einer statistisch total erfassten Fußball-Welt nicht zu erfahren ist, wie oft die Fans in Schwarz und Rot ihren ausgemachten Favoriten, den Profi Stefan Kießling, während dessen zwölfjähriger Profi-Laufbahn unter dem Bayer-Kreuz als „Zaunkönig“ auf die herausgehobene Position oberhalb des Rasens, seines eigentlichen Arbeitsplatzes, berufen haben, um gemeinsam mit ihm Tore oder Siege, oder am besten gleich beides, zu bejubeln. Gefühlt sein halbes Sportlerleben hat „Kies“ hier, verschwitzt und happy, auf Augenhöhe und hautnah mit den eingefleischtesten Anhängern zugebracht und immer wieder das legendäre „UFFTA – UFFTA – UFFTA“ angestimmt. Lange genug war er ja da. Und ebenso verlässlich wie reichlich hat er sie hier ja auch zum Jauchzen gebracht, wenn er mal wieder in die gegnerischen Maschen getroffen und als Zeichen des Jubels die beiden Tattoos auf seinen Unterarmen geküsst hat.

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Das Debüt: Stefan Kießling bei seinem ersten Bundesliga-Spiel für Bayer 04 gegen Alemannia Aachen am 12. August 2006.

Der Zaunkönig wird in der Vogelkunde als schlauer Pfiffikus dargestellt. Diese Nachrede geht auf eine Fabel des Dichters Äsop zurück, der berichtet hat, dass die Vögel einst beschlossen, denjenigen unter ihnen zum König zu machen, der am höchsten zu fliegen vermag. Das gelang zwar dem Adler, aber der Zaunkönig schaffte es durch eine List, diesen zu übertreffen.

Um im wahren Fußball-Leben auf Dauer zum „Zaunkönig“ oder gar zu einer Art „Stadtheiligem“ von Leverkusen zu avancieren, bedarf es freilich neben einem guten Schuss Bauernschläue weiterer nachhaltiger Charaktereigenschaften. Der schlaksige Junge aus Oberfranken, bei seinem Dienst-antritt 2006 vom Aussehen und Auftritt her eher ein smarter Schwiegermutter-Typ, machte dem kritischen Publikum in der Industrieregion am Mittelrhein alsbald klar, dass er sich in seiner Art, Fußball zu spielen, auch als Malocher versteht. Das kam gut und imponierte den Leuten. „Kilometerfresser“ titelte die „Frankfurter Rundschau“ anlässlich seines Karriere-Endes. Kießling, der leidenschaftliche Kämpfer, der Mann mit dem Doppelherzen, dem auf dem Platz kein Weg zu weit ist, erweist sich als ausgesprochener Teamplayer, der in der Gruppe das Gefühl der Kameradschaft auslebt. Obwohl er als Stürmer jederzeit für ein Tor gut ist, lässt er sich wie selbstverständlich auch zu Defensivaufgaben nie zweimal bitten. Die Spieldaten weisen für ihn neben den Toren regelmäßig die längsten Strecken aus. Einen solchen Kerl weiß man liebend-gerne in seinen Reihen. Das Trainer-Herz schlägt hoch, höher, am höchsten.

Ich habe eben ein bisschen Zeit gebraucht, um anzukommen

Der Weg zum „Fußball-Gott“ der BayArena ist allerdings weit. Steinig der Beginn. Der Neuling, den der Klub für seinerzeit beachtliche 7,5 Millionen Euro angeheuert hat, ist jung, mit einem guten Torriecher ausgestattet, ehrgeizig, aber unreif. Er soll neben Dimitar Berbatov stürmen, einem ungemein eleganten Spieler, einem Schleicher, der sich schon international einen guten Namen gemacht hat. Im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat sich „Kies“ unlängst an den Start erinnert: „Berbatov wechselte zu Tottenham und plötzlich lastete viel Verantwortung auf meinen Schultern. Das war ein Druck, den ich bis dahin nicht kannte und mit dem ich auch nicht umgehen konnte. Für viele war ich damals schon die teuerste Bratwurst aus Nürnberg. Ich habe eben ein bisschen Zeit gebraucht, um anzukommen.“

Dieser schlappe Spruch sollte sich schon bald als fette Fehleinschätzung herausstellen. Der Neuling ackert, hängt sich in jede Trainingseinheit so rein, als sei es die letzte, und lässt sich vor allem durch nichts und niemanden entmutigen. Er ist gekommen, daran lässt er keinen Zweifel, um zu bleiben. Dass es ein Dutzend Jahre würden, war nicht abzusehen. Bayer 04-Ehrenspielführer Bernd Schneider, der in seiner Bindung an Klub und Fans ähnlich gestrickt ist und über Jahre mit ihm spielte: „Er hatte es anfangs sehr schwer. Ich habe oft seine Leidenschaft und seinen Willen bewundert, die ihn immer wieder ranbrachten. Stefan ist zweifellos eine wichtige Figur in der Historie von Bayer 04. Als Typ ist er rücksichtsvoll, zuvorkommend, humorvoll.“

Worte, die man im Profifußball-Geschäft nicht so oft zu hören bekommt. So wie auch Treue. Loyalität. Vereinstreue ist, glaubt man den Gesten vieler Spieler, in Zeiten des modernen Fußball-Nomadentums längst ein wohlfeiles Gut mit sehr begrenztem Haltbarkeitsdatum. Stefan Kießling ist zwölf Jahre lang Bayer 04 treu geblieben, obwohl es an interessanten Anfragen und konkreten  Angeboten nie gemangelt hat, was bei der Klasse des Spielers auch verwundert hätte. Er hat immer wieder seinen Vertrag verlängert, hat sein privates und berufliches Wohlbefinden dargetan und seine Karriere stets aufs Neue von der Zuneigung der Fans tragen lassen.

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In einer Zeit, in der Politiker nach der Einführung des Schulfachs „Wertekunde“ rufen, stehen Typen wie Kießling in der öffentlichen Beurteilung zu Recht hoch im Kurs. Die Meinungsmacher, Trendsetter und Influencer definieren aktuell den Begriff „Heimat“ mit all seinen Facetten als gesellschaftliches Leitmotiv. Im Fußball rührt das Wort „Heimat“ an die Seele und die Wurzeln dieses an sich einfachen Spiels. Auch an Gefühle, die sich der Alltagssprache entziehen. Nach seinem letzten Auftritt im Trikot mit dem Bayer-Kreuz (beim 3:2 im Saison-Finale gegen Hannover 96), als sich längst eine freundliche Wolke von Wehmut übers Stadion gelegt hatte, drückte „Zaunkönig“ Kießling angesichts einer überwältigenden Choreographie und der überschäumenden Emotionen seine Stimmung genau in diesem Sinne so aus: „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Mir fehlen einfach die Worte. Im Ernst – was ihr in den letzten Wochen und Monaten für diesen Tag geleistet habt, das ist Heimat.“

Heimat. Da ist es wieder, das Stichwort für ein Gemeinschaftsgefühl, das Menschen verbindet, die im Fußball aus sehr unterschiedlichen Motiven ihr Glück suchen und finden. Sie feiern die Jungs, die dafür sorgen, dass ihr Klub gut dasteht und dass sie sich selbst gut fühlen. Sie lieben diejenigen, die sich ein Stück weit mit ihrer Treue zum Verein gemein machen, die sich tatsächlich und nicht nur verbal mit ihnen und ihrem Arbeitgeber identifizieren.

„Kies“ ist einer von diesen Leuten. Immer authentisch, immer bei sich selbst. Diejenigen, die ihn besser kennen, sagen, dass bei ihm jeder schnell weiß, woran er mit ihm ist. Auf dem Platz sowieso. Aber auch daneben.

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Kies fühlt sich auch der Stadt Leverkusen verbunden: Hier genießt er die Perspektive auf die BayArena vom Wasserturm aus.

Innerhalb von einem Dutzend Jahren hat er in der Bayer-Kabine so ziemlich alles erlebt, was der Fußball zu bieten hat: Dreier-, Vierer-, Fünfer-, Perlenketten, kippende Neuner, schwimmende Sechser, Lippenleser und Schwalbenkönige, Kopfballungeheuer, Feuerwehrmänner, Eisenbieger, Performer und Joker. Er hat seine Pflicht getan und Tore geschossen, als Dosenöffner, als Lucky Punch, Big Point oder Krümeltor. Durch die Hosenträger des gegnerischen Schlussmanns oder zur Not auch durch ein Loch im Netz, was ihm eine Zeitlang ungerechterweise als Betrugsversuch angelastet wurde und ihn entsprechend bedrückt hat. Man konnte als Torgarant meistens auf ihn zählen, wenn’s eng wurde. Was nicht selbstverständlich war bei einer Mannschaft, die lange als notorisch unzuverlässig, weil Tagesform-abhängig galt.

Aber auch Stefan Kießling musste erfahren, dass der Fußball-Obergott es selbst mit den Fußball-Göttern nicht immer gut meint. Leverkusens Nr. 11 war nicht selten verletzt, was bei seiner körperlich sehr aufwendigen Spielweise kein Wunder war. Manchmal verbrachte er über längere Phasen mehr Zeit in den Reha-Zentren der Republik als auf dem Trainingsplatz. „Kies“ hat es sich früh abgewöhnt, mit solchen Problemen zu hadern. Eher schon nahm er im Zweifelsfall sich und seine Disziplin mal wieder in die Pflicht, um nichts zugunsten einer baldigen Rückkehr in den Mannschaftskreis zu unterlassen.

Er hat seine Karriere stets aufs Neue von der Zuneigung der Fans tragen lassen
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Der Bundesliga-Torschützenkönig von 2013 (25 Treffer) wurde nur sechsmal in die Nationalmannschaft berufen. Ein Missverhältnis zwischen der Quote und den Nominierungen, das Bundestrainer Joachim Löw damit begründete, der Werkself-Kicker passe nicht in sein System. Kießling hat das weder beeindruckt noch beeinflusst, er hat es ebenso akzeptiert wie seine Reservisten-Rolle bei der WM 2010 in Südafrika. Dennoch ist er alles andere als ein „Local Hero“. Er gilt einerseits weit über die Tore der BayArena hinaus als untadeliger Sportsmann. Andererseits hat er bei den vielen internationalen Auftritten der Werkself immer wieder derart starke Vorstellungen abgeliefert, dass ihm attraktive europaweite Angebote ins Haus flatterten. Die er dann ablehnte. Ein Mann, ein Wort, ein Vorbild.

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Kein Geringerer als „Uns Uwe" Seeler überreichte Kies 2013 die Torjägerkanone.

Die Fußball-Bundesliga hat mit dem „Servus“ von Kießling eine Attraktion verloren. Bei Bayer 04 freut man sich derweil über einen engagierten Mitarbeiter, der als Referent der Geschäftsführung nun erste Erfahrungen im neuen Betätigungsfeld sammelt.

Eine Pointe, die zu schön, fast ein bisschen kitschig gewesen wäre, ist dem Fußball-Gott ausgerechnet durch einen Eingriff ins Spiel aus Köln verwehrt worden. Als Kies sich beim Saison-Ultimo gegen Hannover wenige Minuten vor dem Abpfiff den Ball zum Elfmeter hinlegen will, greift der Fußball-Obergott in Person des Video-Assistenten von der kölschen „schäl Sick“ aus ein und verbittet sich die Ausführung des umstrittenen Strafstoßes.

In einer Hommage an Stefan Kießling anlässlich seines letzten Spieles zeigt Bayer 04-TV emotionale Bilder und Stimmen aus der Bundesliga:

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Der Publikumsliebling wendet sich ab ohne zu zetern und begibt sich auf direktem Weg letztmalig zu seinem Stammplatz als „Zaunkönig“, wo die Jubelwellen über ihm zusammenschlagen. Seine Abschiedstournee findet hier in der Heimat ihren abschließenden Höhepunkt. Hier geht einer, der sich in die Herzen gespielt hat. „UFFTA – UFFTA – UFFTA . . .“ auf einen großen Sportler.

 

Eine Karriere in Zahlen:

1. BL-Spiel für Bayer 04
am 12. August 2006 beim 3:0-Saisonstart gegen Alemannia Aachen. Stefan lieferte den Assist zum 3:0 von Simon Rolfes.

1. BL-Tor für Bayer 04
am 11. November 2006 zum zwischenzeitlichen 1:1 bei der 2:3-Heimniederlage gegen Bayern München.

144 
Tore (131 für Bayer 04/13 für Nürnberg), die Stefan Kießling erzielte, bedeuten Platz 17 in der ewigen Bundesliga-Statistik. Ulf Kirsten ist in dieser Rangliste 6. mit 181 Toren, Rudi Völler 22. mit 132 Einschüssen.

Das schnellste Tor
Beim 3:1-Heimsieg gegen den 1. FC Kaiserslautern im April 2012 traf Kies bereits nach 24 Sekunden zur Führung.

Die Nr. 1 der Lüfte
Seit Erfassung der Kopfballtore in der Spielzeit 2004/05 war kein Spieler so oft im Luftkampf erfolgreich wie Kies, der 40 Mal per Kopf traf. Zweiter in dieser Liste sind Kevin Kuranyi und Mario Gomez mit jeweils 34 Kopfballtoren.

Zwei Hattricks, 16 Doppelpacks
In 16 Spielen traf Kies doppelt, zweimal gelang ihm sogar ein Hattrick: beim 4:0 im November 2009 gegen den VfB Stuttgart sowie im Mai 2012 beim 4:1 in Nürnberg.

Der Schwabenschreck
Am häufigsten traf er gegen den VfB Stuttgart, 14 Mal in 21 Spielen.

Spiel Nr. 279
Mit dem 1:0-Siegtreffer im Mai 2013 beim Hamburger SV erfüllt sich für Kies mit dem Gewinn der Torjägerkrone ein großer Traum. Seitdem sind keinem deutschen Profi mehr 25 Bundesliga-Treffer in einer Spielzeit gelungen.

Welch' großen Stellenwert die Fans für ihn haben, was es braucht, um viele Tore zu erzielen, wo es in Leverkusen am schönsten ist und vieles andere mehr verrät Stefan Kießling übrigens in der sechsten Ausgabe des Werkself Podcasts. Reinhören lohnt sich!

 

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