„Ich hätte die ganze Welt umar­men kön­nen!“

Klaus Topp­m­öl­ler im Inter­view zur Cham­pi­ons-League-Sai­son 2001/02

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Es war die spektakulärste und trotz des verpassten Titels erfolgreichste internationale Saison in der Vereinsgeschichte. Angefangen mit dem Qualifikationsspiel gegen Roter Stern Belgrad bis zum Finale gegen Real Madrid in Glasgow absolvierte Bayer 04 zwischen August 2001 und Mai 2002 wegen der damals noch eingebauten Zwischenrunde insgesamt 19 Spiele in der Champions League. Und begeisterte mit seinem Fußball ganz Europa. Im Team standen Ausnahmekönner wie Lucio, Jens Nowotny, Diego Placente, Bernd Schneider, Michael Ballack, Yildiray Bastürk, Carsten Ramelow, Oliver Neuville, Zé Roberto, Ulf Kirsten und Dimitar Berbatov. Trainer dieser Mannschaft war Klaus Toppmöller. Wir haben den 64-Jährigen in seinem Heimatort Rivenich an der Mosel besucht und sprachen mit ihm über unverhoffte Treffen mit dem Trainerkollegen Javier Irureta, seinen Ärger über Marcello Lippi, die besondere Beziehung zu Sir Alex Ferguson und das Finale gegen Real...

Herr Toppmöller, lassen Sie uns über die Saison 2001/02 reden.
Toppmöller:
Sehr gerne. Diese Saison war ein absoluter Traum. Keiner hatte uns vorher auf der Rechnung. Udo Lattek war noch derjenige, der uns in der Bundesliga am weitesten vorne sah – auf Platz sieben.

International trauten die meisten Bayer 04 auch nicht besonders viel zu...
Toppmöller: Wir hatten ja auch noch die Qualifikation zu überstehen. Und Roter Stern Belgrad war schon eine echte Hürde. Vor allem im Hinspiel in Belgrad vor 50.000 Zuschauern mussten wir in sehr aufgeheizter Atmosphäre kühlen Kopf bewahren. Mit dem 0:0 war eine gute Basis fürs Rückspiel gelegt, das wir sehr souverän mit 3:0 gewannen. Wir hatten den Sprung in die europäische Elite geschafft.

Und Sie bekamen es in der Gruppenphase gleich mit Hochkarätern wie Olympique Lyon und dem FC Barcelona zu tun. Favorit war Bayer 04 in dieser Gruppe sicher nicht.
Toppmöller: Unser erstes Spiel in Lyon war extrem wichtig. Olympique war eine absolute Spitzenmannschaft mit vielen Brasilianern und französischen Nationalspielern. Lucio machte ein überragendes Spiel und Ulf Kirsten schoss den Siegtreffer zum 1:0 für uns. Die ersten drei Punkte waren eingefahren.

Ulf Kirsten war im weiteren Verlauf der Saison nicht immer ganz glücklich bei Ihnen.
Toppmöller: Ich habe ihn nicht immer spielen lassen, weil ich auch Dimitar Berbatov fördern wollte. Das nimmt mir der Ulf bis heute noch übel. Ich habe ihm aber immer gesagt, wenn der Jüngere genauso gut ist wie der Ältere, dann spielt bei mir immer der Jüngere. Ulf hatte trotzdem noch seine Einsätze und verdammt wichtige Tore für uns gemacht. Ich denke da auch an seinen Treffer gegen Arsenal in letzter Minute. So ein Tor machte nur der Ulf. Er musste sich ja fast verrenken, um noch an diese Flanke zu kommen. Das war schon Akrobatik. Wenn Berbatov diesen unbändigen Willen, diesen Biss von Ulf gehabt hätte, dann wäre er perfekt gewesen. Dem Berbo ist alles so leicht gefallen. Vom Fußballerischen her war er eine Augenweide - aber in der Saison 2001/02 auch ein bisschen der Mr. Chancentod.

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Zum ersten Heimspiel der Gruppenphase kam der FC Barcelona in die BayArena. Was die Süddeutsche Zeitung hinterher als „Toppmöllers Kulturrevolution“ bezeichnete, hatte in der ersten Halbzeit noch ganz anders ausgesehen...

Toppmöller: Die haben uns in der ersten Halbzeit an die Wand gespielt. Ich hatte mich für eine defensivere Variante entschieden angesichts der geballten Offensivpower von Barca mit Spielern wie Kluivert und Saviola. Aber ich habe mich dermaßen geärgert, dass Barcelona uns so vorgeführt hatte, dass ich in den zweiten 45 Minuten auf Dreierkette umstellte. Yildiray Bastürk kam rein, so stellten wir Überzahl im Mittelfeld her, drehten das Spiel und gewannen 2:1. Am Ende sicher auch verdient.

Bastürk war einer Ihrer Lieblingsspieler, stimmt‘s?
Toppmöller: Ich mochte immer Spieler, die mit der Kugel umgehen können. Yildiray war so einer. Bernd Schneider natürlich auch. Bernd war, als ich kam, kein Stammspieler gewesen. Aber ich wollte ihn unbedingt einbauen. Ganz am Anfang spielte er bei mir ja sogar rechter Verteidiger.

Auf der gegenüberliegenden Seite hatten Sie noch so einen genialen Techniker...
Toppmöller: Diego Placente. Oh ja, was ist Diego am Anfang unterschätzt worden. Er kam ja sozusagen als Anhängsel von Lucio nach Leverkusen. Diego war taktisch so perfekt, den hätte ich bei jedem Training wegschicken können. Der hat automatisch alles richtig gemacht. Er und Zé Roberto haben auf der linken Seite ganz Europa schwindelig gespielt.

Sie hatten viele fantastische Fußballer im Team. Wer war Ihr wichtigster Ansprechpartner in der Mannschaft?
Toppmöller: Michael Ballack. Er war ein absoluter Leader. Mit ihm habe ich mich immer abgestimmt, wie wir bei bestimmten Spielständen vorgehen würden. Ballack hat sich so in den Dienst der Mannschaft gestellt, das war phänomenal. Er war sich nie zu schade, auch ganz hinten auszuhelfen, gerade bei den Spielen in Liverpool und Manchester. Ballack spielte in diesem Jahr die Saison seines Lebens. Dabei hatte er zu Beginn einen schweren Stand bei den Fans, die ihm seinen angekündigten Wechsel zu den Bayern verübelten. Ich kann mich gut an ein Fanclub-Meeting erinnern, bei dem deswegen ausgesprochen schlechte Stimmung geherrscht hatte. Ich habe mich damals voll hinter Michael gestellt und den Fans versprochen, dass er eine überragende Saisonspielen würde. Aber wir hatten in der Tat noch viele großartige Fußballer im Team.

Die Qualifikation für die Zwischenrunde hatte Bayer 04 durch den Sieg in Istanbul vorzeitig perfekt gemacht. Und hier warteten nun ganz dicke Brocken: Arsenal London, Juventus Turin und Deportivo La Coruna. Der Auftakt in Turin hatte nebulöse Begleitumstände...
Toppmöller: Das Spiel wurde wegen Nebels zweimal verschoben. Man konnte dort wirklich nicht anpfeifen. Aber was man hinterher mit uns angestellt hat, war schon dubios. Jedenfalls kamen wir erst um halb vier morgens in unserem Hotel an, mussten mittags um 13 Uhr spielen – und verloren mit 0:4. Nach dem Spiel tönte Juves Trainer Lippi auf der Pressekonferenz, dass er sich die Aufgabe gegen uns so leicht nicht vorgestellt hätte. Das hat mich extrem geärgert und ich schwor mir, den Konter kriegt er in Leverkusen. Wir gewannen 3:1 und der erste Satz, den ich in der Pressekonferenz sagte, war: So leicht hätte ich mir das gegen Juve nicht vorgestellt.

Alles andere als leicht war die Aufgabe gegen Deportivo La Coruna. Viele schwärmen heute noch vom Sieg dort...
Toppmöller: Das war auch eine Riesen-Mannschaft damals. Roy Makaay, Valeron und Diego Tristan spielten da unter anderem. Wir mussten in La Coruna gewinnen, um sicher ins Viertelfinale einzuziehen. Ich bin einen Tag vor dem Spiel mit Peter Hermann an der Strandpromenade spazieren gegangen, die wunderschöne Stadt lag links neben uns. Plötzlich sagte ich zu Peter, guck mal, da vorne geht doch der Trainer von Deportivo, Javier Irureta. Er hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und sah mit seiner Brille aus wie ein Schullehrer. Er ging auch spazieren. Ich sprach ihn an, unterhielt mich auf Englisch mit ihm. Er war unheimlich nett und freundlich. Im Spiel selbst hatte Irureta gegen uns zwei, drei gute Spieler wie Valeron und Diego Tristan rausgenommen, weil Deportivo in der Gruppe schon durch war. Wir gewannen 3:1, Michael Ballack machte ein Riesen-Spiel. Ich hatte die Angewohnheit, nach der Pressekonferenz und den Interviews noch mal zurück in die Mannschaftskabine zu gehen, um zu schauen, ob jemand was vergessen hatte. Das tat ich auch diesmal wieder. Unsere Kabine war komplett leer. Beim Rausgehen kam ich auch an der Kabine von Deportivo vorbei. Und da saß, ganz alleine, Irureta am Tisch. Ich ging noch mal zu ihm und bedankte mich dafür, dass er nicht seine beste Mannschaft aufgestellt hatte. Er lächelte nur. Aber ich wusste, dass auch er sich darüber freute, dass durch unseren Sieg Arsenal London ausgeschieden war. Vielleicht hatte ich auch durch unser Gespräch am Strand von La Coruna Pluspunkte bei ihm gesammelt.

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Klaus Toppmöller (r.) mit seinem Co-Trainer Peter Hermann.

Diese Tour durch Europa, die Sie zu den Topklubs des Kontinents führte, hatte die nicht etwas Rauschhaftes?
Toppmöller: Das habe ich so nicht empfunden, weil wir alle keine Zeit hatten, groß darüber nachzudenken, was wir da gerade leisteten. Es ging ja immer weiter – in drei Wettbewerben, Schlag auf Schlag.

In der Champions League standen nun die großen Duelle gegen den FC Liverpool und Manchester United auf dem Programm.
Toppmöller: Mich hat der englische Fußball immer begeistert. Ich war als Zuschauer oft bei Spielen auf der Insel. Ich habe mir 1966 auch das WM-Endspiel in Wembley vor Ort angeschaut. Mein Vater hatte mich dazu eingeladen, als Geschenk für mein bestandenes Abitur. Später, als Trainer, hatte ich mal ein Angebot vom FC Fulham. Aber ich hab‘ den Job damals nicht angenommen, weil ich fand, dass mein Englisch nicht ausreichte. Jetzt spielten wir an der Anfield Road.

Und kamen mit keiner guten Ausgangslage zurück nach Leverkusen.
Toppmöller: An der Anfield Road habe ich bewusst eine etwas defensivere Taktik gewählt, weil Liverpool extrem heimstark war. Wir haben etwas unglücklich 0:1 verloren. Anschließend war ich vor unserem Rückspiel noch ein, zwei Mal in Liverpool, um sie zu beobachten. Dabei traf ich im VIP-Bereich auch den damals verletzten Markus Babbel. Der sagte mir, dass Liverpool bisher in dieser Saison nur einmal mehr als ein Gegentor bekommen hätte. Ich antwortete, dann warte mal ab. Der Rest ist ja bekannt: Wir schossen sogar vier Tore im Rückspiel. Aber die brauchten wir auch in dieser dramatischen Begegnung.

Weniger spannend ging‘s im Halbfinale gegen Manchester United auch nicht zu. War die Leistung im Old Trafford für Sie noch besser als die beim 4:2-Sieg gegen Liverpool?
Toppmöller: Ja! Für mich war das 2:2 unser bestes Spiel überhaupt. Die ManU-Fans haben unsere Leistung mit Standing Ovations honoriert. Das war ein fantastisches Erlebnis. Im Rückspiel daheim hatten wir dann extrem viel Glück, Manchester war die bessere Mannschaft. Diego Placente holte noch diesen Kopfball kurz vor Schluss von der Linie. Und dann gab‘s für mich kein Halten mehr. Es war der Wahnsinn, wir standen im Finale. Ich rannte auf den Platz und hätte die ganze Welt umarmen können.

Sie haben Sir Alex Ferguson, die Trainer-Legende von Manchester United, immer als Ihr Vorbild betrachtet. Haben Sie ihn im Rahmen dieser beiden Duelle eigentlich näher kennengelernt?
Toppmöller: Ja, und ich hatte noch Jahre danach sehr guten Kontakt zu ihm. Wir telefonierten regelmäßig und schrieben uns sogar Briefe.

Im Finale war die Mannschaft personell arg gehandicapt...
Toppmöller: Der Kreuzbandriss, den sich Jens Nowotny im Rückspiel gegen ManU zugezogen hatte, war bitter. Zé Roberto fehlte uns gesperrt. Die Mannschaft ging insgesamt auf dem Zahnfleisch.

Wir haben zu der Zeit den schönsten Fußball in Europa gespielt.

Wie haben Sie Ihr Team eingestellt?
Toppmöller: Wir wollten uns auf keinen Fall hinten reinstellen. Ich wollte das Spiel selber bestimmen. Und dann bekamen wir nach neun Minuten ein Gegentor, über dessen Entstehung ich fast wahnsinnig geworden wäre. Denn ich hatte mir in der Vorbereitung auf das Spiel den Mund fusselig geredet über die weiten Einwürfe von Roberto Carlos. Die kannte man doch. Und wir lassen uns dann genau durch einen solchen weiten Einwurf verladen, den Raul zum 1:0 einschoss. Aber die Mannschaft kam ja zurück durch den Ausgleich von Lucio. Und auch nach dem Tor von Zidane zum 2:1 für Real war noch jede Menge drin für uns. Leider fehlte uns im Endspiel in Glasgow das Glück, das wir noch gegen ManU gehabt hatten.

Was ist Ihnen nach dem Schlusspfiff durch den Kopf gegangen?
Toppmöller: Mein erster Gedanke war: Scheiße, wir hätten das Spiel gewinnen müssen, wir waren besser. Aber schon in der Kabine habe ich der Mannschaft gesagt, dass sie eine Riesen-Runde gespielt hat. Wir haben zu der Zeit den schönsten Fußball in Europa gespielt. Entsprechend groß war die Wertschätzung, die wir gerade im Ausland erfahren haben.

Kein Ärger über verpasste Titel?
Toppmöller: Nein, ich trauere keinem verpassten Titel hinterher. Außer Bayern München hätte doch jeder Verein sofort unterschrieben, wenn man ihnen eine solche Saison garantiert hätte, wie wir sie gespielt haben. Ich habe schon in jungen Jahren immer gesagt: Mich interessiert kein Titel, ich will den Leuten ein schönes Spiel anbieten, will Fußball spielen lassen. Fußball soll begeistern. Und genau das haben wir damals geschafft.

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