Der kleine große Mann vom Zucker­hut

Tita

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Vor 30 Jahren verpflichtete Bayer 04 zum ersten Mal einen Brasilianer: Milton Queiroz da Paixao, genannt Tita, blieb nur eine Saison. Er bestritt zwischen September 1987 und Mai 1988 nur 26 Spiele, schoss 12 Tore. Dennoch bleibt der kleine Mann aus Rio de Janeiro in Leverkusen unvergessen. Der UEFA-Cup-Sieg von 1988 ist ganz eng auch mit seinem Namen verbunden. Weil Tita als Spieler und Typ einen so nachhaltigen Eindruck hinterlassen hatte, holte Bayer 04 in den folgenden Jahren noch viele weitere große Fußballer aus Brasilien. Seine eigene Geschichte in Deutschland begann kurios...

Der 2. September 1987 ist ein schöner Spätsommertag, an dem nur wenige Wolken am strahlend blauen Himmel vorüberziehen. Als Milton Queiroz da Paixao am Nachmittag auf dem Flughafen Düsseldorf landet, hat er – aus Rio de Janeiro kommend – einen knapp 14-stündigen Flug in den Knochen. Müde und abgespannt wartet der 29-Jährige mit seiner Frau Sandra und seinen drei kleinen Kindern Desiree, Lohran und Blanche am Gepäckband auf die Koffer – wohlwissend, dass an Ausruhen erst mal nicht zu denken ist. In der Ankunftshalle hält schon ein Fahrer von Bayer 04 ungeduldig Ausschau. Der hat nicht etwa den Auftrag, den Fußballer, der in Brasilien nur Tita genannt wird, ins Hotel zu chauffieren. Das Fahrtziel heißt Müngersdorfer Stadion, hier findet am Abend das Derby statt. Und Tita soll mitwirken. Also geht es schnurstracks von Düsseldorf über Leverkusen nach Köln. In der Mannschaftskabine reicht es noch für eine kurze Begrüßung der neuen Teamkollegen, dann ruft die Pflicht. Immerhin: Ein paar Minuten der Akklimatisierung gönnt ihm Trainer Erich Ribbeck. So darf sich Tita die erste Stunde des Nachbarschaftsduells von der Bank aus anschauen. 33.000 Zuschauer sind gekommen an diesem Abend. Sie sehen ein unspektakuläres Derby mit wenigen Höhepunkten.
Auf Kölner Seite kennt Tita ein paar Nationalspieler aus dem Fernsehen, vor allem den mit den ausgeprägten O-Beinen. Dann soll er sich warmmachen, die müden Muskeln auf Betriebstemperatur bringen. In der 65. Minute schickt Ribbeck ihn für Bum-Kun Cha aufs Feld. Es steht 0:0 und Tita hat noch ein paar starke Szenen, einmal vernascht er bei einem Dribbling auch Pierre Littbarski, der das gar nicht lustig findet. Aber der kleine, freche Brasilianer freut sich diebisch. Am Ende bleibt das Derby torlos – und gerät bei den meisten Dabeigewesenen wohl schnell in Vergessenheit. Tita aber erinnert sich heute noch an sein Debüt für Bayer 04 als wär's gestern gewesen. „Ich bin gleich ins kalte Wasser geschmissen worden“, sagt er und lacht so jungenhaft-schrill, als könnte er selber kaum glauben, wie verrückt das damals gewesen ist mit seinem Einstand.

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Mit dem Kreuz auf der Brust: Tita schirmt den Ball gegen „Tiger“ Stefan Effenberg ab.

Erfolge mit Flamengo

Wir sprechen per FaceTime miteinander, Tita sieht blendend aus und ist bester Laune. Er sitzt in seinem Appartment in Barra da Tijuca, einem Stadtteil von Rio de Janeiro, rund 20 Kilometer vom Zentrum und der Copacabana entfernt. Vom Balkon aus schaut er auf den Strand und den Atlantik. Zahlreiche Lagunen und eine grüne Hügelkette prägen die Landschaft. Barra da Tijuca ist ein vornehmer Stadtteil, in dem sich auch der Olympiapark von Rio befindet. Hier wurden bei den Olympischen Spielen 2016 viele Wettkämpfe ausgetragen. „Ein wundervoller Platz zum Leben“, sagt Tita. „Wenn du mal in Brasilien bist, musst du mich besuchen kommen.“

Das Appartment besitzt er schon seit 1982. Er sei auch immer noch mit derselben Frau verheiratet, „mit meiner Sandra, seit 34 Jahren“, fügt Tita hinzu und fängt schon wieder herzhaft zu lachen an. So, als wäre auch das ein kleines Wunder. Fünf Kinder haben sie. Und inzwischen auch fünf Enkel. Es gehe ihm prima, sagt er. Er sei derzeit ein Trainer ohne Verein, zuletzt habe er Macae Esporte FC aus Rio betreut, der an der Staatsmeisterschaft teilnimmt. Momentan aber genießt er seine Freizeit in vollen Zügen. Spielt dreimal in der Woche Golf und hin und wieder Fußball mit ein paar alten Kollegen. „Ich bin in einer sehr guten körperlichen Verfassung.“

Ins Stadion geht Tita nur noch selten. Neulich, Anfang Mai, hat ihn ein Telekommunikationsunternehmen zum Klassiker Flamengo gegen Fluminense eingeladen - „FlaFlu“, eines der traditionsreichsten Stadt-Derbys der Welt. Er habe ein bisschen Small Talk gemacht und natürlich Flamengo die Daumen gedrückt, seinem Heimatverein, der das Spiel mit 2:1 für sich entschied.

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Tita (Mitte) ist heute ein passionierter Golfer.

Für Flamengo spielte Tita elf Jahre, wurde mit dem Klub dreimal Meister, gewann einmal die Copa Libertadores und 1981 den Weltpokal. Mit 3:0 fertigte Flamengo damals den FC Liverpool im Olympiastadion von Tokio ab. Auf Seiten der „Reds“ spielten Stars wie Graeme Souness und Kenny Dalglish, an der Seitenlinie stand Trainerlegende Bob Paisley. Für Flamengo liefen neben Tita unter anderem Leandro, Nunes und Superstar Zico auf, der zwei Jahre später als einer der ersten Brasilianer nach Europa zu Udinese Calcio wechselte. „Das war ja damals noch etwas Besonderes. Aus heutiger Sicht ist es kaum noch vorstellbar, das Spieler mit einer solchen Vita nicht viel früher in Europa spielten. Aber das fing damals erst so langsam, mit Profis wie Falcao, der 1980 von Internacional zu AS Rom wechselte, oder eben mit Zico.“

Für ihn selbst sollte dieser Schritt erst viele Jahre später folgen. Tita, der inzwischen in der Selecao die ersten Einsätze verbuchen konnte, suchte zunächst in Brasilien nach neuen Herausforderungen, wechselte 1983 zu Gremio Porto Alegre, ging für ein Jahr wieder zurück zu Flamengo, unterschrieb dann bei Internacional und 1986 bei CR Vasco da Gama. Dort spielte der inzwischen 28-Jährige eine fantastische Saison, wurde nach deren Ende zum besten Spieler von Rio de Janeiro gewählt. Der quirlige Super-Techniker mit der Nummer 10 hatte nun auch zwei Bundesliga-Vereine auf sich aufmerksam gemacht. Schalke 04 hatte schon 1986 die Fühler nach ihm ausgestreckt. „Die schickten jemanden von adidas, der mich einmal zu Hause besuchte. Aber ein offizielles Angebot haben sie mir dann nicht unterbreitet.“

Ich wusste nichts über den Klub Bayer 04. Er war mir kein Begriff

Bayer 04 ging die Sache viel konkreter an. Günter W. Becker, der als Vorstandsmitglied der Bayer AG damals Sprecher für die Region Lateinamerika und bestens vernetzt war, stellte 1987 den Kontakt zu Tita her. „Er fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, in Deutschland zu spielen und nach Leverkusen zu kommen. Ich habe das allerdings erst gar nicht so ernst genommen und ehrlich nicht daran geglaubt, dass das wirklich passieren konnte.“ Und überhaupt: Wer war schon Bayer 04 Leverkusen? „Ich wusste nichts über den Klub, er war mir kein Begriff“, sagt Tita.
Aber die Leverkusener ließen nicht locker, sie hatten damals zwar noch keine eigenen Scouts vor Ort, aber jede Menge Videomaterial über diesen begnadeten Fußballer gesammelt. Rüdiger Vollborn, sein späterer Mannschaftskollege, hat diese VHS-Kassette mal zu sehen bekommen: „Meine Güte, was hat dieser Mann für Tore geschossen. Man kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.“

Ein Wechsel nach Deutschland? Tita sah die Chance aber auch das Wagnis. „Ich war immerhin schon 29“, sagt er. „Aber es war natürlich die große Gelegenheit, den Europäern zu zeigen, was ich drauf hatte. Ich war einfach bereit. Und bekam ja auch ein finanziell lukratives Angebot von Bayer 04.“ Weil er mit Vasco da Gama aber noch die Saison zu Ende spielen wollte, verpasste er die komplette Vorbereitung bei Bayer 04 und konnte erst am sechsten Bundesliga-Spieltag einsteigen. Eben an jenem 2. September 1987 in Köln.

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Es war die große Gelegenheit, den Europäern zu zeigen, was ich drauf hatte

Unmittelbar nach dem verheißungsvollen Kurz-Auftritt im Derby durfte Tita mit seiner Familie endlich die Zimmer im Ramada-Hotel in Wiesdorf beziehen, die für das kommende halbe Jahr ihr Zuhause blieben. „Wir mussten uns um vieles selber kümmern. Immerhin, ich habe eine Deutsch-Lehrerin zur Verfügung gestellt bekommen“, erinnert sich Tita. Damals gab es eben für Neuzugänge noch nicht das heute übliche Rundum-Sorglos-Paket.

Viel wichtiger sei auch gewesen, dass die Mannschaft ihn großartig aufgenommen habe. Allen voran Trainer Erich Ribbeck, der ein guter Freund werden sollte. „Ribbeck hat an mich und meine Fähigkeiten geglaubt. Er kam immer wieder zu mir ins Hotel, aß mit mir zu Mittag und interessierte sich für meine Probleme.“

Denn ganz so einfach verliefen die ersten Wochen aus sportlicher Sicht für den „kleinen Zauberer“ aus Brasilien nicht. Drei Tage nach dem Debüt im Derby wurde Tita bei der 1:3-Niederlage vor der spärlichen Kulisse von 10.000 Zuschauer wieder für eine halbe Stunde eingewechselt. Danach war erst mal Sendepause, für die nächsten fünf Spiele stand Tita noch nicht einmal im Kader, kam nur bei den von Gerhard Kentschke trainierten Amateuren zum Einsatz. Anfang Oktober stand er beim 2:0-Sieg gegen den 1. FC Kaiserslautern erstmals in der Startelf der Profis. Aber es lief immer noch nicht wirklich rund. Der Mann, der in Brasilien Tore am Fließband erzielt hatte, wollte in Leverkusen nicht zünden. „Für mich kam das nicht überraschend“, sagt Erich Ribbeck heute. „Tita hatte eine lange Saison in Brasilien gespielt, keinen Urlaub gemacht und keine Vorbereitung mit uns. Aber er war sehr fleißig im Training, übte nach den Einheiten noch stundenlang Freistöße.“

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Tita im Freundschaftsspiel gegen Deutschland, 1981.

Tita selbst hat freilich noch eine andere Erklärung für seine Startschwierigkeiten. „Es hing mit meiner Position zusammen, die ich bei Bayer 04 spielen musste. Ribbeck sah mich zunächst als Stürmer, aber in Brasilien hatte ich eigentlich nie Stürmer gespielt, auch wenn ich viele Tore erzielt hatte. Ich war immer ein klassischer Zehner.“

Die Trendwende sollte eine 2:3-Niederlage bei den Bayern im November einleiten. Tita kam zur Halbzeit beim Stand von 0:3 auf den Platz, machte elf Minuten vor Schluss sein erstes Tor für Bayer 04 und bereitete den zweiten Treffer von Wolfgang Rolff vor. Zwei Tage später gab es ein Gespräch mit Erich Ribbeck. „Ich sagte ihm: 'Trainer, ich habe Probleme mit der Position, ich spiele nicht dort, wo ich am besten bin'. Ribbeck fragte mich: 'Wo willst du denn spielen?' Ich antwortete: 'Ich spiele eigentlich die Position von Andrzej Buncol, also die Zehn.' Ribbeck sagte: 'Buncol ist aber mein bester Mann, den kann ich nicht runternehmen.' Also sagte ich: 'Gut, kein Problem, dann bleibe ich eben auf der Bank. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, möchte ich aber auf der Zehn spielen.'“

Die Gelegenheit ergab sich früher als erhofft: Im Hinspiel des UEFA-Cup-Achtelfinales bei Feyenoord Rotterdam hatte sich Buncol verletzt, im nächsten Bundesliga-Auswärtsspiel bei Waldhof Mannheim sollte Tita seine Chance bekommen. Ribbeck brachte ihn von Anfang an als offensiven Mittelfeldspieler – und der Brasilianer legte an diesem trüben, nasskalten Tag Ende November einen Galaauftritt hin und erzielte drei Tore beim 4:1-Sieg. Der berühmte Knoten war geplatzt. Tita blühte auf, traf auch im darauffolgenden Spiel gegen den FC Homburg zum 1:0. Den zweiten Treffer beim 2:1-Sieg steuerte sein bester Freund im Team, Falko Götz, bei.
„Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden“, sagt Tita. „Vielleicht lag es daran, dass auch Falko aus der Fremde kam, wenn auch nur aus Ostdeutschland. Aber das war damals eine komplett andere Welt und Falko war ja erst ein paar Jahre zuvor aus der DDR geflüchtet.“ Die Geschichte von dessen Flucht habe ihn tief beeindruckt, sagt Tita. Ansonsten hat er die politisch bewegten Zeiten ende der 80er Jahre in Deutschland und Osteuropa nur am Rande registriert.

Wo ist ribbeck?

Sein Universum war der Fußball. Und der bescherte ihm in der Rückrunde noch einige Sternstunden. Zum Beispiel im März 1988, der sein Monat werden sollte. Erst erzielte er in Frankfurt am 5. März einen Treffer, eine Woche darauf sorgte er mit zwei Toren als Matchwinner für den 2:1-Sieg gegen Mönchengladbach. Tita hatte sich warmgeschossen. Und dann kam die absolute Hammerwoche: Bayer 04 trat am 16. März im UEFA-Cup zum Viertelfinal-Rückspiel beim FC Barcelona an. Gerade einmal 20.000 Zuschauer, darunter 2.000 aus Leverkusen, verirrten sich in der riesigen Betonschüssel des Camp Nou. Die Ausgangslage nach dem 0:0 im Hinspiel war nicht überragend. Aber Bayer 04 hielt auch in Spanien gut mit. Als dann Christian Schreier auf rechts durchging, vom heraus eilenden Barca-Keeper Zubizarreta gefoult wurde, landete der Ball irgendwie bei Tita, der aus sieben Metern wuchtig zum 1:0 für Bayer 04 traf und sein Team damit ins Halbfinale geschossen hatte. „Es war ein großartiges Gefühl und sicher mein wichtigster Treffer bis dahin für Leverkusen.“

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Als Bayer 04 2013 das 25-jährige Jubiläum des UEFA-Cup-Sieges feierte, lagen sich Tita und Erich Ribbeck wieder in den Armen.

Drei Tage später sollte ein nicht ganz so bedeutendes aber umso spektakuläreres Tor folgen. Beim Titelanwärter Werder Bremen, der auch nächster Gegner im UEFA-Cup-Halbfinale werden würde, führte Bayer 04 zur Pause überraschend durch einen Doppelschlag von Schreier mit 2:0. In der Schlussphase drehten die Bremer das Spiel, plötzlich stand es 3:2. Als die letzte Minute angebrochen war, schnappte sich Tita den Ball, dribbelte, wurde 30 Meter vor dem Tor gefoult. „Alle von uns rannten nach vorne und warteten darauf, dass ich die Freistoßflanke reinbringen würde“, erzählt Tita und kann sich kaum halten vor lachen. „Ich zog aber einfach voll ab und der Flatterball schlug tatsächlich im Tor ein. Ich rannte zu unserer Bank, wollte unseren Trainer umarmen. Aber ich fand ihn nicht und war sehr verblüfft.“ Ribbeck hatte den Ausgleich schlicht verpasst, er war schon nach dem 3:2 der Bremer wutentbrannt in die Kabine gestampft...

Für Tita hatte sich sein intensives Freistoßtraining einmal mehr ausgezahlt. Immer und immer wieder hatte er nach den Einheiten Sonderschichten eingelegt. Ein Nachwuchstorhüter ging in den Kasten, Tita zirkelte und schnibbelte was das Zeug hielt. Die Bälle legte er dabei immer mit dem Ventil nach oben. „So hatten sie einfach eine bessere Flugbahn.“ „Tita war ein Schlitzohr“, sagt Erich Ribbeck über seinen ehemaligen Schützling. Aber Tita war eben auch ein genialer Fußballer, der die Leichtigkeit und Eleganz eines Spielmachers mit der Ausgebufftheit eines Mittelstürmers verband. Der Mann mit der Schuhgröße 38 hatte brasilianisches Temperament ins beschauliche Leverkusen gebracht. „Er war der Erste, der nach einem Tor auf den Zaun kletterte, um mit den Fans zu feiern“, erinnert sich Rüdiger Vollborn an die Zeiten, in denen durchschnittlich 10.000 Zuschauer ins Haberland-Stadion kamen und Tore allenfalls beklatscht, aber noch nicht frenetisch bejubelt wurden. Durch Tita hatte die graue Maus Leverkusen einen ordentlichen Farbtupfer aufs Fell bekommen.

Die magische Nacht

Als wir auf den großen Tag, den 18. Mai 1988, zu sprechen kommen, wird es für einen Moment ganz ruhig am anderen Ende der Leitung. Tita schaut weg von der kleinen Handykamera, fasst sich mit einer Hand an die Augen und fängt zu schluchzen an. Die Erinnerung an den UEFA-Cup-Sieg lässt ihn tatsächlich in Tränen ausbrechen. „Das war für mich der wichtigste Sieg, den ich jemals errungen habe“, sagt er stockend. Dieser rührende Moment kommt so unvermittelt und geht ans Herz. „Weißt du“, erklärt er, „ich erinnere mich genau, wie Javier Clemente, der Trainer von Espanyol, damals nach dem Hinspiel sagte, dass seine Mannschaft schon eine Hand dran habe am UEFA-Cup. Und er hatte ja Recht, wie sollten wir eine 0:3-Niederlage aufholen können? Das war doch kaum möglich. Wir haben es trotzdem geschafft in einer magischen Nacht, die ich nie, nie vergessen werde.“ In diesem einen Spiel im Haberland-Stadion steckte noch einmal der ganze Tita: der Spitzbube, der Torjäger mit dem untrüglichen Instinkt, der aufbrausend Temperamentvolle, der warme Herzensmensch.

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Ein Treffer mit Signalwirkung: Tita macht das 1:0 im Finale gegen Espanyol.

Die Spieler von Espanyol hatten ihm schon in der ersten Halbzeit einige derbe Unflätigkeiten an den Kopf geworfen, wollten ihn, wissend, dass er jedes Wort verstand, provozieren. Als Tita noch beim Stand von 0:0 dem Espanyol-Keeper Thomas N‘Kono bei einem Abschlag aus der Hand den Ball wegspitzelte und ins Tor einschob, erkannte Schiedsrichter Jan Keizer den Treffer nicht an. Der Brasilianer war außer sich.

Dann kam die zweite Halbzeit und die 57. Minute. Herbert Waas hatte sich auf der rechten Seite durchgetankt, an den Fünfmeterraum gepasst, wo Tita, umringt von zwei Verteidigern, dank gütiger Mithilfe des Gegners den Ball in bester Gerd-Müller-Manier über die Linie stocherte. Der Brasilianer schnappte sich sofort den Ball aus dem Netz und spurtete in Höchstgeschwindigkeit zurück zum Anstoßkreis. Los jetzt, kommt! Tita hatte das Signal zur Aufholjagd gegeben. Wenig später aber ließ er sich wieder in ein paar Scharmützel mit fies stichelnden Spaniern ein, regte sich furchtbar auf – und wurde schließlich von Ribbeck ausgewechselt. „Damals konnte ich es nicht fassen, ich hatte ja ein gutes Spiel gemacht. Aber aus heutiger Sicht verstehe ich den Trainer. Er wollte mich vor der roten Karte bewahren und hat die richtige Ent- scheidung getroffen.“

Der Rest ist schnell erzählt: Als Tita noch kopfschüttelnd auf der Bank saß, erzielte Falko Götz das zweite Tor, Bum-Kun Cha ließ das Haberland-Stadion mit seinem 3:0 neun Minuten vor Schluss erbeben. Und nach der torlosen Verlängerung avancierte Rüdiger Vollborn zum Helden im Elfmeterschießen. Der erste große Triumph für Bayer 04 war unter Dach und Fach. Tita und Erich Ribbeck lagen sich wieder in den Armen, der Frust über die Auswechselung war vergessen. Jetzt sollte der Titel natürlich gebührend gefeiert werden. Auf dem Platz, in der Kabine und am nächsten Tag in der Stadt mit allem Pipapo. Das allerdings war nicht zu jedem durchgedrungen.

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Da ist das Ding: Tita reicht den UEFA-Cup an Falko Götz weiter.

Sesamstraße statt Party

Tita erschien also am Donnerstagmorgen wie üblich zum 10-Uhr-Auslauftraining. Bis auf Zeugwart Harald Wohner, der wie immer mit der Schuh- und Trikotpflege beschäftigt war, blieb der Mannschaftstrakt allerdings verwaist. Wo denn alle seien, fragte Tita. Aber Harry Wohner konnte ihm nicht recht weiterhelfen. Tita fuhr ratlos wieder nach Hause. „Ich setzte mich mit meinen Kindern vor den Fernseher und schaute die Sesamstraße, weil wir dabei immer ein bisschen Deutsch lernten.“ Als sie genug von Ernie und Bert und dem Krümelmonster hatten, zappte der Papa ein bisschen rum, landete bei irgendeinem öffentlich-rechtlichen Sender – und traute seinen Augen nicht: „Ich sah meine Mann- schaftskollegen, wie sie durch Leverkusen chauffiert und von den Menschenmengen gefeiert wurden. Sah, wie Falko, Rüdiger, Herbert und all die anderen nacheinander den UEFA-Cup am Rathaus in die Höhe stemmten.“ Nur ihn hatte über die offizielle Feier keiner informiert. „Kannst du dir das vorstellen?“, fragt er aus dem Display und bricht wieder in dieses herrlich-schrille, ansteckende Tita-Lachen aus.

Schwamm drüber. Vergeben, nicht Vergessen. Immerhin: Am letzten Spieltag, die Bayern kamen ins Haberland-Stadion, wurde auch Tita bei der Mannschaftsehrung vor dem Anpfiff noch einmal gefeiert. Es sollte sein letztes Spiel im Bayer 04-Trikot werden und er wollte sich ordentlich von seinen Fans verabschieden. Er tat dies auf seine Art, mit einem Tor, seinem zwölften im 26. Spiel. Lief unmittelbar danach jubelnd auf seinen Trainer zu, streifte sein rotes Trikot ab, zog das darunterliegende weiße Dress vom UEFA-Cup-Finale aus und schenkte es Erich Ribbeck zum Abschied. Denn auch der verließ den Verein. Trotz einer 3:0-Führung gewannen die Bayern das Spiel noch mit 4:3. „Aber das spielte keine Rolle mehr“, sagt Tita, „Es war trotzdem ein schöner Schlusspunkt einer wundervollen Zeit“.Eine Zeit, die kaum, dass sie richtig begonnen hatte, schon wieder beendet war. Warum ist er nur acht Monate geblieben in Leverkusen? „Das hatte einige Gründe. Ich war schon 30, wollte noch einmal andere Erfahrungen in Europa sammeln. Ich hatte kein gutes Gefühl beim neuen Trainer Rinus Michels, auch im Vorstand bei Bayer 04 gab es Veränderungen.“ Aber Tita mag auch nicht verhehlen, dass er sich im Vergleich zu anderen in der Mannschaft unterbezahlt fühlte. „Es passte einfach einiges nicht mehr zusammen.“

Tita wechselte in der Saison 1988/89 nach Italien zu Pescara Calcio in die Serie A, stieg trotz seiner neun Tore mit dem Klub in die zweite Liga ab und kehrte nach zwei Jahren in Europa wieder zurück in die Heimat zu Vasco da Gama. Gehörte 1990 zum WM-Kader Brasiliens, ging noch einmal für vier Jahre nach Mexiko zu Club Leon, mit dem er Meister wurde und beendete seine aktive Karriere im Alter von 39 Jahren in Guatemala bei Communica-Ciones mit dem Meistertitel. „Ich bin dankbar, dass ich nie schwere Verletzungen hatte und nach meiner Leverkusener Zeit noch neun Jahre professionell Fußball spielen konnte.“


Nach 21 Jahren als Profi ging die Reiserei für Tita als Trainer nahtlos weiter und führte ihn neben Stationen in Brasilien, den USA und Mexiko bis nach Japan zu Urawa Red Diamonds. Bei der WM 2006 in Deutschland assistierte er dem großen Zico, seinem ehemaligen Mitspieler bei Flamengo, als Co-Trainer der japanischen Nationalmannschaft. „Ich habe auch meine bisherige Trainerzeit sehr genossen. Du hast zwar viel mehr Verantwortung, aber im Erfolgsfall empfindest du auch eine größere Befriedigung.“

Stolz ist Tita auch auf die Tradition, die er in Leverkusen begründet hat. 21 Brasilianer verpflichtete Bayer 04 nach ihm. Viele von ihnen entwickelten sich an der Dhünn zu Weltklassespielern und internationalen Topstars. Jorginho, Paulo Sergio, Zé Elias, Emerson, Paulo Rink, Zé Roberto, Lucio, Juan, Renato Augusto – all das sind Namen, die erst in Leverkusen zu großen Namen wurden. „Wenn ich mit meiner Leistung und meinem Auftreten für viele weitere Landsleute die Tür bei Bayer geöffnet habe, freut mich das“, sagt der 59-Jährige. „Tita war der Schlüssel zu allen anderen Brasilianern“, bestätigte Reiner Calmund einmal in einem Interview mit den „11Freunden“.

immer noch Fan

Noch heute, fast 30 Jahre nach seiner Ankunft in Leverkusen, verfolgt Milton Queiroz da Paixao aufmerksam das geschehen bei Bayer 04. Auf einem TV-Kanal in Brasilien zeigen sie manchmal Spiele der Werkself. Tita weiß, dass eine schwere Saison hinter seinem Ex-Klub liegt. Im Mai wünschte er der Mannschaft per WhatsApp-Video alles Gute fürs Derby gegen Köln. „Ich drücke euch die Daumen, Forca, Bayer 04 Leverkusen“, hatte er vom Golfplatz aus übermittelt. Das Foto mit der um Körper und UEFA-Cup geschwungenen Brasilien-Fahne war bis vor kurzem sein Profilbild auf WhatsApp.

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Die Familie 1987: Tita mit Ehefrau Sandra und den Kindern Desiree, Lohran und Blanche.

Als 2013 das 25-jährige Jubiläum des UEFA-Cup-Sieges groß gefeiert wurde in Leverkusen, war Tita natürlich gekommen. Dieses Mal hatte man nicht vergessen, ihn einzuladen. „Es war so schön, die alten Kollegen, Trainer und Betreuer wiederzusehen. Wir hatten unglaublich viel Spaß“, sagt Tita. Ein kleines Spielchen gegen eine Fanauswahl stand damals auch auf dem Programm. Natürlich erzielte Tita auch dabei ein Tor – per Freistoß. Nur einer fehlte beim Wiedersehen der alten Helden: Falko Götz, sein bester Freund aus der Zeit, musste aus beruflichen Gründen absagen. „Ich hatte mich so auf das Treffen gefreut“, sagt Götz. „Vor allem auf Tita. Für mich war er als überragender Fußballer und wunderbarer Mensch eine der größten Bereicherungen meiner Karriere.“

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Dass er trotz seines Kaltstarts in Köln mal mit solch warmen Worten von einem Kollegen beschenkt werden würde - Milton Queiroz da Paixao hätte es sich vor 30 Jahren wohl nicht träumen lassen.