Er ist Abwehrchef und Leitfigur in Personalunion: Sven Bender spielt seine vierte und letzte Saison bei der Werkself. Im Sommer zieht er gemeinsam mit Zwillingsbruder Lars einen Schlussstrich unter 15 Jahre Profifußball und wird nicht nur in Leverkusen eine Lücke hinterlassen. Doch bis es so weit ist, hat Sven noch einiges vor mit Bayer 04...
Der selbstbestimmte Abgang, den die beiden Brüder wenige Tage vor Weihnachten verkündeten, ist eine weitere Facette jener Geradlinigkeit, für die sie seit Jahren auf und neben dem Platz stehen. Die Meldung der bevorstehenden Demission von Lars und Sven Bender zum Ende dieser Saison war kaum veröffentlicht, da prasselten schon die Lobeshymnen auf sie herab. Aus den eigenen Reihen sowieso – Rudi Völler würdigte ihre „außergewöhnliche sportliche Lebensleistung“ –, aber auch im Rest der Republik wurden den Zwillingen verbale Kränze geflochten. „Verbeulte Vorbilder“ sieht die Süddeutsche Zeitung in ihnen, „die sich furchtlos wie kopfüber in Zweikämpfe stürzen, ob in einem Europacupspiel oder beim Vormittagstraining“. Für den Kölner Stadt-Anzeiger sind sie „Vorzeige-Profis und vereinsübergreifend die meistrespektierten Bundesligaspieler“. Ex-DFB-Trainer Horst Hrubesch hatte sie bereits zuvor als „das Beste, was mir im Fußball je passiert ist“ geadelt.
„Ehrlich gesagt habe ich das gar nicht so sehr mitbekommen“, sagt Sven Bender, der um 14 Minuten jüngere der beiden Brüder. „Für uns stand im Vordergrund, einen geeigneten Zeitpunkt für die Veröffentlichung zu finden, um dieses Thema nicht mit ins neue Jahr zu nehmen. Aber diese Form der Wertschätzung ist natürlich schön und zeigt, dass wir wohl einiges richtig gemacht haben.“ Dass Bayer 04-Geschäftsführer Fernando Carro kürzlich in einem Interview mit Sport1 verriet, bis zum Schluss gehofft zu haben, „dass vielleicht nur Lars im Sommer aufhört, weil er noch mehr von Verletzungen gebeutelt war“, kommentiert Sven so: „Ich hatte in meiner letzten Saison in Dortmund zwei langwierige Verletzungen im Sprunggelenk. Seitdem beschäftigt mich der Fuß immer wieder und bereitet mir jeden Tag Schmerzen. Ich habe diese chronischen Probleme jetzt vier Jahre toleriert und mich bis hierhin durchgekämpft. Aber es ist ein schwerer Rucksack, den ich mit mir rumschleppe, und in den vergangenen Monaten wurden die Gedanken immer drängender, was letztlich der Preis dafür ist. Ich will meinen Körper ja auch nach der Karriere noch in Anspruch nehmen.“
Deshalb zieht er im Sommer mit dann 32 Jahren die Reißleine. „Spiele an jedem dritten oder vierten Tag sind auf Sicht einfach nicht mehr drin. Auf diesem hohen Niveau werde ich meine Leistung nicht mehr bringen können“, betont Sven. Und wenn das eben nicht mehr geht, ist er raus. Ganz oder gar nicht, mit voller Überzeugung. Das ist für ihn alternativlos, da wählt er immer die gerade Strecke, keine Route mit Umwegen und Schlenkern. „55 Verletzungen seit 2007, die grippalen Infekte schon herausgerechnet“, hat das Magazin 11Freunde bei ihm im Laufe der Profikarriere gezählt. Am Ende sind es nicht die verheerenden, blutgetränkten Wunden wie Nasenbein- und Kieferbrüche, die den unbeugsamen Kämpfer in die Knie zwingen, es sind die eher unsichtbaren und viel zermürbenderen Verschleißerscheinungen, die seinen Körper plagen.
In den verbleibenden Monaten seiner an sportlichen Höhepunkten und gesundheitlichen Tiefschlägen reichen Laufbahn aber wird Sven Bender wie üblich alles daransetzen, die denkbar beste sportliche Version von sich auf dem Platz zu sein. Und vielleicht sogar noch ein bisschen mehr, jetzt, wo das Ende einmal ausgesprochen ist. „Ich fühle mich vom Kopf her frei für das letzte halbe Jahr, und womöglich wird dadurch ja sogar noch mal zusätzliche Energie aktiviert.“ Bender wird weiter täglich nach dem Maximum streben, so hat er es schon immer gehalten. „Wenn ich aufgehört habe, kann ich in den Spiegel gucken und weiß, dass ich alles reingesteckt habe, in jedes Training, in jedes Spiel. Aber solange ich noch aktiv bin, werde ich nicht zufrieden sein.“ Wer so spricht, hat noch längst nicht fertig.
Dass es für die Werkself in dieser Saison, die viele nach den Abgängen von Kai Havertz und Kevin Volland im vergangenen Sommer für ganz besonders schwierig gehalten haben, hoch hinausgehen kann, steht für Sven Bender außer Frage. Und das aus Prinzip. Sein Credo: „Wer nicht groß denkt, kann auch nichts Großes erreichen, weil er durch seinen Horizont schon begrenzt ist.“ Damit ist er schon immer gut gefahren. Und diese Denk- und Sichtweise versucht er auch auf seine Mitstreiter in Schwarz und Rot zu übertragen.
„Bayer 04 hat lange gebraucht, um wie in der vergangenen Saison mal wieder ein Pokalfinale zu erreichen. Wir haben auch kein schlechtes Spiel gemacht. Aber vielleicht braucht es einfach noch mehr Erfahrung, dass man eine solche Situation mit großen Endspielen öfter erlebt, um sie dann auch erfolgreich zu bestreiten. Auch in Europa haben wir eine gute Rolle gespielt, doch zum Schluss hat uns gegen Inter Mailand die letzte Überzeugung gefehlt, es wirklich schaffen zu können. Ich glaube, dieses Mal ist für uns auch international alles möglich.“
Doch auch ihn hat durchaus überrascht, wie konstant erfolgreich die Werkself das erste Drittel der Saison hinter sich gebracht hat. „Auch in der vergangenen Saison war es schon stimmig in der Mannschaft, und wir haben gut harmoniert. Aber in dieser Saison sind wir nochmal einen Schritt weiter, weil wir uns von Rückschlägen nicht beeinflussen lassen und unseren Plan auf dem Platz gnadenlos durchziehen“, sagt er. Dass gerade die Defensiv-Abteilung eine tragende Rolle im funktionierenden Gesamtkonstrukt einnimmt, freut den Abwehrchef umso mehr. Und der Leader reicht die Lorbeeren gern weiter. „Ich habe sensationelle Nebenleute. Vor einem Jahr ist Edi Tapsoba dazugekommen, der ins kalte Wasser geworfen wurde, unfassbar stark performt hat und ein Riesengewinn für unsere Truppe ist. Aber auch alle anderen wie Jona (Tah; d. Red.), Drago (Dragovic; d. Red.) oder Tin (Jedvaj; d. Red.) haben gezeigt, dass auf sie total Verlass ist. Wir haben Leute in der Innenverteidigung, die in jeder Konstellation zusammenspielen können. Das ist ein Pfund, um das uns viele beneiden.“
Bender sieht sich auch abseits des Rasens in der Pflicht, den Kollegen zur Seite zu stehen. Auch und gerade, wenn diese mal schwierigere Zeiten durchmachen wie Jonathan Tah, der sich in den vergangenen Monaten auf einmal in der ungewohnten Situation wiederfand, nicht beständig zur Startelf zu gehören. Da ist der Routinier auch als Vermittler von Zuversicht gefragt. „Ich war früher mit Anfang, Mitte 20 auch in solchen Situationen, wo es mir mal gutgetan hätte, wenn mir Kollegen den Rücken gestärkt hätten. Das ist für mich die Essenz: Über allem Konkurrenzkampf steht der Teamgedanke, und genau der zeichnet uns aktuell aus. Die Haltung, dass jeder engagiert sein Bestes gibt: Der, der spielt, lehnt sich nicht zurück – und der, der mal draußen ist, steckt nicht auf.“
Eben diese Einstellung macht einen Bender, ob er nun Sven oder Lars mit Vornamen heißt, so wertvoll fürs Gemeinwohl. Wobei es zu seinem Selbstverständnis und reflektierten Urteil gehört, auch allgemeine Veränderungen im Fußball der Jetzt-Zeit klar zu benennen. „Lars und ich sind ja auch mal mit 1860 München Deutscher Meister bei den B-Junioren geworden. Zu der Zeit mag es sogar noch ein paar Talente mehr gegeben haben, die den Sprung aus der Jugend zu den Profis geschafft haben. Aber die, die es heute packen, sind noch einmal eine ganz andere Kategorie als wir damals. Die kommen in die Bundesliga und spielen mit einer Selbstverständlichkeit, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Wenn ich diese Jungs bei uns sehe, ob vorher Kai (Havertz; d. Red.) oder jetzt Flo (Wirtz; d. Red.), das sind so krasse und extreme Ausnahmespieler. Einfach nur genial.“
Über die Zeit, die auf ihn und Lars nach Abpfiff ihrer Laufbahn wartet, hat sich Sven Bender natürlich auch seine Gedanken gemacht. Er ist und wird auch keiner sein, der ohne Plan in den Tag hineinlebt. Geht es zurück in die Heimat nach Bayern? „Logisch, definitiv!“ Auch die Karriere nach der Karriere geht er absolut fokussiert an. „Lars und ich haben die vergangenen Jahre immer schon nebenbei Projekte aufgebaut und vorangetrieben. Was es ist, möchte ich noch nicht sagen. Nur so viel: Mit Fußball hat es auf jeden Fall nichts zu tun.“
Wenn er denn eines nicht mehr allzu fernen Tages auf seine Zeit als Profi zurückblickt, ist da so einiges, auf das er stolz ist. U19-Europameister, zweimal Deutscher Meister mit Borussia Dortmund, zweimal DFB-Pokalsieger mit dem BVB, Champions-League-Finalist 2013, sieben A-Länderspiele, Silber 2016 bei den Olympischen Spielen in Rio. Die Spiele unter den fünf Ringen in Brasilien wertet er als absolutes Highlight. „Klar war es schmerzlich, das Finale im Maracana gegen Brasilien im Elfmeterschießen zu verlieren. Doch das Spezielle an Olympia ist etwas, was so im Fußball eigentlich nicht vorkommt: Es gibt nicht nur den einen Sieger, der die ganz besondere Medaille mitnimmt. Da sind zwei weitere Gewinner, die nicht mit leeren Händen nach Hause gehen.“
Es war bei weitem nicht das einzige Mal, dass Sven Bender als Zweiter aus einem umkämpften Wettkampf hervorgegangen ist. Bundesliga, Pokalfinale, Königsklasse – Endspiele zu verlieren, tat immer weh. „Wenn ich ehrlich bin, habe ich schon das Gefühl, dass ein oder zwei Titel zu wenig dabei sind“, sagt er. Aber da gibt es ja auch eine gute Nachricht: Das letzte Kapitel seiner Karriere wird gerade erst geschrieben.
Der größte Erfolg
„Über die Titel geht nichts. Die erste Deutsche Meisterschaft 2011 mit Dortmund kam total unerwartet. Wir Jungs damals waren in der Mehrzahl Anfang 20 und wurden Kinderriegel genannt. Von so einem Titel hatte ich als kleines Kind immer geträumt. Nicht nur in den großen Stadien zu spielen, sondern auch mal eine Schale hochzuhalten.“
Die größte Enttäuschung
„Wenn man es schafft, in ein Champions-League-Finale zu kommen und dann verliert, ist das nur bitter. Es war zwar insoweit erträglich, dass man weiß, man hat alles gegeben und ein gutes Spiel gemacht beim 1:2 gegen die Bayern 2013. Aber wenn du es durch ein Tor eine Minute vor Schluss vergeigst, ist es einfach nur übel.“
Der unangenehmste Gegner
„Mein Bruder, auch wenn‘s blöd klingt. Ich kann es eh nicht ab, Duelle zu verlieren, aber gegen ihn war das besonders schwer. Schon von klein auf. Egal in welcher Disziplin, ob es heute Tischtennis ist, oder früher ,Mensch ärgere dich nicht‘ war. Deswegen bin ich ja auch froh, dass er seit fast vier Jahren in meinem Team spielt.“
Der beste Mitspieler
„Ich habe in meiner Laufbahn von so vielen Kollegen profitiert und gelernt, da will ich gar keinen herausheben. Da waren fantastische Jungs aus allen Bereichen dabei. Der eine hatte unglaubliches Talent, der andere war ein krasser Teamplayer. Ich bin sicher gesegnet, mit so vielen großartigen Fußballern zusammengespielt zu haben.“