Er ist seit fast 40 Jahren im Verein, mit 401 Bundesligaeinsätzen der Rekordspieler des Klubs und hat als einziger Bayer 04-Profi sowohl den UEFA-Cup (1988) als auch den DFB-Pokal (1993) gewonnen. Nach seiner aktiven Karriere war Rüdiger Vollborn viele Jahre lang Torwarttrainer, heute kümmert sich der gebürtige Berliner als Fanbeauftragter auch um die Pflege des historischen Vereinsarchivs und begeistert bei BayArena-Touren, Stadtrundfahrten oder Vorträgen in der Schwadbud seine Zuhörer mit Anekdoten und spannendem Insider-Wissen aus der langen Bayer 04-Geschichte. Grund genug, dem ehemaligen Torhüter von Schwarz-Rot gleich zwei Teile im Rahmen unserer Serie zu widmen. In Teil 1 geht es um seine Herkunft, seine Anfänge unterm Bayer-Kreuz und seine Jahre als Nummer 1 zwischen den Pfosten.
Erst kürzlich gab’s mal wieder einen dieser Momente, der ihm für Stunden keine Ruhe ließ. Es ging um eine Startelf. Zehn Namen konnte er sofort runterrasseln - zack, zack, zack, zack. Aber der elfte wollte ihm, verdammte Hacke, partout nicht einfallen. Dabei war er selber Teil dieser Mannschaft. Gut, das Ganze lag 46 Jahre zurück, es handelte sich um die E-Jugend seines Berliner Heimatvereins Blau-Weiß 90. Aber normalerweise verfügt Rüdiger Vollborn eben über ein nahezu lückenloses Erinnerungsvermögen. Der Mann hat ein Elefanten-Gedächtnis. Und dann fehlt ihm dieser eine verflixte Name von der 1973er U10!
Vollborn muss lachen, als er diese kleine Anekdote zum Besten gibt. „Ich lebe quasi den ganzen Tag in der Vergangenheit“, sagt der 56-Jährige, der sich heute von Berufs wegen intensiv mit der Historie von Bayer 04 beschäftigen darf. Das Interesse an Geschichte liegt dem Rekordspieler des Vereins (401 Bundesligaspiele) im Blut. Als Junge tauchte er gerne in Sagen und antike Göttergeschichten ab, er las Felix Dahns „Ein Kampf um Rom“, zählt die „Säulen der Erde“ und die „Tore der Welt“ von Ken Follet zu seinen Lieblingsbüchern. Auch seine Begeisterung für Musik geht weit über das reine Hören von Songs hinaus, er dokumentiert sie in Chart-Listen, die bis in die 50er Jahre zurückgehen. Vollborn ist „Historiker“ durch und durch.
Seine eigene Geschichte bei Bayer 04 beginnt 1981. Es ist ein magisches Jahr für Rüdiger Vollborn. Er ist DFB-Auswahltorwart, unterschreibt im März seinen Vertrag in Leverkusen, wird im Juni U18-Europameister und im Oktober des selben Jahres U20-Weltmeister. Das alles passiert „wie aus dem Nichts“, wundert sich Vollborn noch heute. Man muss ein bisschen ausholen, um dieses für ihn fantastische Jahr einordnen zu können.
Vollborn wird nach seiner ersten Station bei Traber FC Mariendorf Stammtorhüter beim Traditionsklub Blau-Weiß 90 Berlin. 1979 gewinnt er mit dessen U17 das Finale um die Deutsche Meisterschaft. Gegner ist der FC Augsburg, bei dem Raimund Aumann, der spätere Bayern-Keeper, das Tor hütete. Der damalige DFB-Trainer Dietrich Weise schaut sich das Endspiel an und lädt sowohl Vollborn als auch Aumann zu Junioren-Länderspielen ein. Vollborn sitzt gegen Polen über 90 Minuten auf der Bank, fährt im Januar 1980 mit der U17-Nationalmannschaft in die USA, macht sein erstes Jugendländerspiel und hört danach ein Jahr lang nichts mehr vom DFB. 1980 im Oktober wird er erstmals wieder zu einem Lehrgang eingeladen. „Weise sagte zu mir: ‚Ich möchte dich gerne beim nächsten Turnier der U18 in Moskau ausprobieren, wir suchen noch eine Nummer 2. Aber du solltest etwas an deinem Gewicht tun’. Das Thema Gewicht sollte mich auch später noch mal beschäftigen“, erzählt Vollborn. Er brachte damals bei 1,83 Meter Körpergröße 86 Kilogramm auf die Waage. Das Spiel in Moskau findet im Januar 1981 im Rahmen des Granatkin-Turnieres statt. Vollborn trainiert in Berlin wie ein Berserker, springt auch über Weihnachten jeden Tag eine halbe Stunde Seilchen, geht im Wald laufen und reduziert sein Gewicht um sieben Kilo. Beim Turnier in Moskau präsentiert sich Vollborn in Top-Form. Er macht drei der fünf Partien und ist danach einer von fünf gesetzten Spielern für die U18-EM in Deutschland.
Ein junger Redakteur ist für den „Kicker“ in Moskau dabei, er ruft Vollborn ein wenig später in Berlin an und möchte ein Interview mit ihm führen. Für den Nachwuchs-Torhüter wird es sein erstes Interview - für den jungen Redakteur Frank Lußem ebenso. Die beiden treffen sich in Berlin, Lußem fragt die neue Nummer 1 der deutschen U18: „Zu welchem Verein in der Bundesliga würdest du denn gerne gehen?“ Vollborn antwortet ehrlich: „Mein Lieblingsverein war immer Borussia Mönchengladbach. Aber gehen würde ich gerne nach Leverkusen.“ Lußem stutzt. Aber der Berliner Abiturient mit Mathe-Leistungskurs, der da vor ihm sitzt, hatte sich längst schlau gemacht über die aktuellen Torhüter-Besetzungen der Bundesligisten. Und er rechnet sich in Leverkusen schlicht die größten Chancen auf einen Stammplatz zwischen den Pfosten aus. „Ich wusste: Hubert Makel war 38 und Fred Bockholt 36 Jahre alt“. Gut, da wäre auch ein mathematisch weniger begabter Mensch drauf gekommen, dass unterm Bayer-Kreuz eher früher als später eine neue Nummer 1 gefragt sein würde. Dass der Klub kurz darauf Uwe Greiner als Nachfolger verpflichten würde, konnte Vollborn damals noch nicht wissen. „Außerdem, dachte ich, könnte ich ja dann eine Ausbildung bei der Bayer AG machen, was meinem Vater sehr wichtig war.“
Wie gut, dass Frank Lußem so einen engen Draht zu Reiner Calmund, dem damaligen Jugendleiter von Bayer 04 hat. Die beiden kennen sich aus gemeinsamen Zeiten in Frechen. „Ich rufe da mal jemanden an“, sagt der Kicker-Redakteur zum talentierten Torwart. Das Interview mit Vollborn ist übrigens nie im „Kicker“ erschienen. „Viele Jahre später gestand mir Frank Lußem einmal, dass der eigentliche Anlass seiner Reise nach Berlin nicht ich war. Er wollte die Gelegenheit nutzen, um sich mit seiner damaligen Freundin zu treffen, die sich gerade auf Klassenfahrt in Berlin befand.“
Ende Februar 1981 kommt Rüdiger Vollborn eines abends spät nach Hause. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel von seiner Mutter: „Ein Herr Kallemund hat angerufen“, steht drauf. Vollborn macht in der Nacht kaum ein Auge zu. Am Morgen fragt er seine Mutter aufgeregt: „Was hat er denn gesagt, was hat er denn gesagt?“ Aber sie antwortet nur: „Ich habe nichts verstanden.“ Reiner Calmund wird wie immer viel erzählt haben, aber sein kölscher Singsang kam Mutter Vollborn wohl wie eine Fremdsprache vor.
Calmund ruft dann aber wenig später noch einmal an und lädt Vollborn zum Probetraining nach Leverkusen ein. Am 9. März steigt Rüdiger in den Flieger. „Calli“ holt ihn am Flughafen Köln-Bonn ab, seine Stimmung ist prächtig. Zwei Tage zuvor hatte Arne Larsen Ökland die Bayern im Alleingang 3:0 besiegt. Calmund bringt Vollborn ins Ramada-Hotel (heute Best Western), am Nachmittag haut Gerd Kentschke dem jungen Mann aus Berlin bei strömendem Regen die ersten Bälle aufs Tor. Dahinter sitzen Reiner Calmund und Heinz Heitmann, der Manager der Profis, im Auto und schauen zu. Am nächsten Morgen trainiert Vollborn mit Fred Bockholt, der damaligen Nummer 1 der Werkself, der aber tatsächlich nach der Saison aufhören würde. Nachmittags folgt das Mannschaftstraining. Vollborn findet sich dabei „überhaupt nicht dolle. Es war eher ziemlich furchtbar. Ich habe kein Land gesehen, es ging alles viel zu schnell“.
Vollborn fliegt mit einem unguten Gefühl zurück nach Berlin. Immerhin: Calmund hatte ihm gesagt, dass man ihn noch einmal in einem Spiel sehen wolle. „Dann kommt in zwei Wochen, da spielen wir gegen Hertha 03 Zehlendorf, den Tabellenzweiten“, sagt Vollborn. Calmund und Fußball-Obmann Vollrath Höhne sind beim Berliner Spitzenspiel tatsächlich vor Ort. Aber was sie zu sehen bekommen, ist eine Slapstick-Nummer: Beim Warmmachen kriegt Vollborn den Ball voll auf die Zwölf, sinkt ohnmächtig zu Boden. Der Trainer bringt ihn mit Ohrfeigen wieder zu sich. „Rudi, Rudi, kannst du spielen?“, fragt er. „Ich muss, Leverkusen ist da“, sagt Vollborn noch etwas benommen. Also stellt er sich wieder zwischen die Pfosten, läuft irgendwann unter zwei Flanken her. Fehler, die zu zwei Gegentoren führen. Vollborn denkt: „Das war’s dann wohl mit Leverkusen“, geht bedröppelt nach Hause und sieht im Wohnzimmer seiner Eltern Calmund und Höhne sitzen. „Was machen Sie denn noch hier?“, fragt er die beiden. Calmund fragt zurück: „Wieso?“ - „Na ja“, sagt Vollborn, „ich würde mich nach diesem Spiel nicht mehr verpflichten.“ „Siehste, Jung“, entgegnet Calmund, dem die selbstkritische Art des Burschen gefällt, „genau deshalb will ich dich haben“.
Ein paar Tage später fliegt Vollborn wieder nach Leverkusen, unterschreibt seinen Vertrag in einem Büro im Ulrich-Haberland-Stadion und geht anschließend raus auf den Rasen. Er stellt sich an eine Eckfahne, lässt den Blick schweifen und denkt: „Hier willst du also deine Erfolge feiern.“
Die sollten in Leverkusen noch etwas auf sich warten lassen. Aber mit der deutschen U18 wird er im Juni Europameister. Und nur vier Monate später mit der U20 sogar Weltmeister in Australien. Dabei war die deutsche Elf für dieses Turnier gar nicht qualifiziert. Weil aber einige Länder ihre Teilnahme abgesagt hatten, rückte die DFB-Auswahl nach - und gewann das Finale mit Vollborn im Tor gegen Katar 4:0. Im Team standen damals unter anderem die späteren Bundesligaprofis Helmut Winklhofer (Bayern/Bayer 04), Michael Zorc, Ralf Loose (beide Dortmund), Thomas Brunner (Nürnberg), Roland Wohlfarth (Duisburg) und Ralf Sievers (Frankfurt).
Vollborn spielt in seinem ersten Leverkusener Jahr in der Amateur-Mannschaft. „Mehr schlecht als recht“, sagt er im Rückblick. „Stefan Schmitz, die Nummer 2, war eigentlich besser in diesem Jahr - nur nicht so ehrgeizig wie ich.“ In der Saison 1982/83 zieht Trainer Dettmar Cramer den 19-jährigen Vollborn, der nebenbei eine Ausbildung zum Wirtschaftsassistenten bei der Bayer AG beginnt, die er aber nach anderthalb Jahren als Industriekaufmann beendet, nach oben zu den Profis als zweiten Mann hinter Uwe Greiner. Bayer 04 spielt eine schwache Saison, steht zur Winterpause auf dem letzten Platz, wird am Ende Elfter. Der Vertrag mit Uwe Greiner wird nicht verlängert, der 20-jährige Rüdiger Vollborn ist ab der Saison 83/84 die neue Nummer 1 unterm Bayer-Kreuz. Andreas Nagel, 18, die Nummer 2. „Wir hatten beide null Bundesligaspiele, null Profi-Erfahrung. Aber trotzdem ging der Klub mit uns beiden Jungspunden in die Saison - das würde heute auch kein Verein mehr machen.“
Und dann geht es am ersten Spieltag auch gleich zum Rekordmeister nach München. Vollborn hüpft bei der ersten Platzbegehung, aufgeregt wie ein Schuljunge vor der ersten Klassenfahrt, irgendwie komisch über den Rasen im Olympiastadion. Jürgen Gelsdorf, der alte Hase, wirft ihm einen skeptischen Blick zu: „Was iss’n mit dir?“, fragt er. „Mann, ich freu mich einfach, ich hab richtig Bock drauf, hier zu spielen“, antwortet der Youngster. Heute muss Vollborn schmunzeln, wenn er an das verdutzte Gesicht von „Gelle“ zurückdenkt. „Aber ich dachte damals auf dem Rasen wirklich, hey, ist das geil, das hast du früher nur im Fernsehen gesehen. Und jetzt bist du selber Teil davon. Ich wollte nie Bundesliga-Torwart werden, um damit Geld zu verdienen. Ich wollte in der Sportschau zu sehen sein. Das war mein Ansporn.“
Sein Debüt geht 1:2 verloren, Vollborn macht in dieser Saison alle 34 Spiele, darunter ein großer 2:0-Sieg gegen den amtierenden Meister und Europapokalsieger Hamburger SV, bei dem der junge Keeper überragend hält. Mit den ominösen „Bananen-Flanken“ von Manni Kaltz hat er überhaupt keine Probleme, reihenweise fischt er Horst Hrubesch die Bälle vom Kopf. Bayer 04 landet am Ende auf Rang 7, seiner bis dato besten Bundesliga-Platzierung.
Aber der Torhüter hat einen schweren Stand. Seine Trainingsleistungen sind gut. Doch er spürt nicht immer die volle Rückendeckung innerhalb der Mannschaft. Manchmal klopft ihm ein älterer Spieler vor einer Partie auf den Rücken und sagt: „Hey, heute machst du ein gutes Spiel, ja?“ Und Vollborn denkt: „Schönen Dank, nur heute? Und die anderen Spiele waren scheiße, oder wie!“
Dettmar Cramer führt viele Gespräche mit ihm. Vom kleinen Mann mit dem großen Trainer-Namen ist Vollborn angetan. Eines Tages kommt Cramer mit einem Modell in die Kabine und sagt: „Männer, das hier wird unser neues Stadion.“ Vollborn ist perplex. Er fragt sich: Wie sollen wir das denn voll kriegen? Cramer begeistert die Mannschaft mit seinen Visionen, seiner Fußball-Philosophie. Er bohrt Strukturen auf. „Man hatte bei ihm das Gefühl, dass er Bayer 04 in vielerlei Hinsicht professioneller macht“. Nur: Der sportliche Erfolg bleibt bescheiden.
Vollborns zweite Saison läuft nicht gut, weder für die Mannschaft, noch für ihn. Nach einer 1:3-Niederlage beim 1. FC Köln, bei der er schlecht aussieht, bekommt er nächtliche Anrufe: „Verpiss dich! Geh wieder zurück nach Berlin!“ Vollborn fühlt sich ungeliebt: „Die Leute mochten mich einfach nicht, weil ich unter Flanken herlief.“ Er spielt tatsächlich mit dem Gedanken, wieder zurück zu Blau-Weiß 90 Berlin zu gehen. Dort sind ja noch viele seiner ehemaligen Kollegen aktiv. Und sein Vertrag in Leverkusen läuft ohnehin am Ende der Saison 84/85 aus.
Wenige Spieltage vor Schluss einer ziemlich verkorksten Saison ruft ihn Erich Ribbeck an, der für die kommende Saison schon als Nachfolger von Cramer feststeht. „Ich baue auf dich“, sagt Ribbeck, „du musst bleiben“. Vollborn lässt sich überreden und unterschreibt einen Vertrag für weitere zwei Jahre zu verringerten Bezügen. „In den Verhandlungen hatte ich ja nicht die besten Karten.“ Der neue Coach will zwar keine neuen Spieler, aber er baut die Mannschaft komplett um. Er macht aus dem Mittelstürmer Christian Schreier einen defensiven Mittelfeldspieler, aus dem defensiven Mittelfeldspieler Thomas Hörster einen Libero, aus den Mittelstürmern Thomas Zechel und Falko Götz einen rechten Verteidiger bzw, einen offensiven Mittelfeldspieler. „Unsere ganze rechte Seite bestand auf einmal aus drei ehemaligen Mittelstürmern, die natürlich alle noch durchaus Drang nach vorne hatten. Günter Drews, gerade aus der A-Jugend gekommen, wurde eine Art Spielmacher. Alois Reinhardt war der einzige Vorstopper. Diese Veränderungen taten uns gut.“
Und Rüdiger Vollborn? – Der sollte mal wieder abnehmen. Denn bei Ribbeck durfte kein Spieler über 80 Kilogramm wiegen. „ Selbst Thommy Hörster musste runter auf 79,5 kg, was für ihn unheimlich schwer war. Derjenige, der es eigentlich gar nicht schaffen konnte, war Klaus Täuber, der war so muskelbepackt und wog 83 Kilogramm. Unter 80, das war für ihn ein Ding der Unmöglichkeit.“ Vollborn schafft es, mit Hilfe von Dieter Trzolek, dem Physiotherapeuten, und einer Umstellung der Ernährung die gesetzte Kilo-Grenze zu unterschreiten.
Die zweite Sache, die Ribbeck seinem Torhüter ans Herz legt, ist ein Besuch bei der Psychotherapeutin Birgit Jackschath, eine ehemalige Basketballerin des TuS 04, die einige Jahre später mit Dettmar Cramer das Buch „Fußballpsychologie“ schreiben sollte. Vollborn fährt regelmäßig zu ihr, lernt durch autogenes Training, sich auf dem Platz in eine ruhigere, gelassenere Stimmung zu bringen. „Ich hatte einfach immer eine zu extreme Anspannung vor den Spielen, war viel zu nervös“, sagt Vollborn. Mit der Therapeutin geht er auch gezielt seine Schwächen an, vor allem seine Strafraum-Phobie. Er will mutiger werden, sich trotz seiner fußballerischen Defizite auch mal außerhalb des 16-Meter-Raumes trauen. So wie beim Derby in Köln im Januar 1986. Da antizipiert er, wie Klaus Allofs noch aus der Kölner Hälfte heraus einen Pass schlagen will. Er sieht Uwe Bein in den freien Raum starten, also nimmt er sich ein Herz und rennt selber los in Richtung Strafraumgrenze, bevor der Ball überhaupt gespielt ist. Kommt der 16-Meter-Linie immer näher. Denkt: „Kacke, ich muss ja raus!“ Macht noch einen kleinen Schritt, aber der Ball springt vor ihm auf und über ihn hinweg ins Tor. Er sieht ganz alt aus in dieser Szene, hechtet dem Ball noch hinterher, kriegt ihn erst hinter der Torlinie zu fassen. „Dabei hätte ich einfach im Sechzehner stehen bleiben müssen und so die Kugel ganz einfach fangen können.“ Aber er wollte ja mutig sein und eine Situation auch mal außerhalb des Strafraums klären. Die Partie zählt dennoch zu seinen Lieblingsspielen, weil Bayer 04 trotz eines 0:2-Rückstandes noch 3:2 gewann und damit den ersten Bundesllga-Derbysieg in Köln einfuhr.
Es gibt noch ein anderes Highlight für Bayer 04 in dieser Saison: den 5:1-Sieg gegen Bremen, nach dem Werder-Trainer Otto Rehhagel die Leverkusener zum Meisterschaftsaspiranten erklärt. Unter Ribbeck qualifiziert sich der Klub in dieser Spielzeit erstmals für den UEFA-Cup, den er schon zwei Jahre später, 1988, sogar gewinnt. Natürlich ist das für Vollborn der größte Triumph als Spieler - mit ihm als Hauptdarsteller im Elfmeterschießen, das er sich so oft herbeigewünscht, von dem er so oft geträumt und auf das er sich mit Birgit Jackschath vorbereitet hatte, die er immer noch regelmäßig aufsucht. Sein Verhältnis zu den Fans ist spätestens seit dem Halbfinal-Rückspiel im UEFA-Cup bei Werder Bremen hervorragend. 3.000 Fans unterstützen Bayer 04 beim 0:0 im Weserstadion, nach dem Schlusspfiff rennt Vollborn sofort in die Fankurve, um mit den Anhängern den Finaleinzug zu feiern – das Eis ist endgültig gebrochen. „Für mich war dieses Spiel der Wendepunkt in dieser Beziehung: Die Fans wussten jetzt, wie ich ticke und ich wusste, wie sie ticken.“
Fünf Jahre später folgt der Titel im DFB-Pokal. Vollborn ist der einzige Bayer 04-Profi, der die beiden größten Erfolge der Vereinsgeschichte miterlebt. Er ist jetzt 30 und längst ein arrivierter Bundesliga-Torhüter. Stark auf der Linie, extrem fangsicher, jetzt auch ordentlich in der Strafraumbeherrschung. 1992 wird er auch noch mal fürs DFB-Team nominiert, als dritter Torhüter steht er zwar im EM-Kader, fährt aber nicht mit nach Schweden, weil damals nur zwei Keeper bei EM-Turnieren dabei sein dürfen. „Ich habe noch nicht einmal die Tasche mit dem DFB- und EM-Logo bekommen“, sagt er und schmunzelt.
Aber eine andere Sache bereitet ihm viel größere Kopfschmerzen: Die 1992 von der FIFA eingeführte Rückpassregel, nach der der Torwart einen mit dem Fuß zurückgespielten Pass eines Mitspielers nicht mehr mit der Hand aufnehmen darf. Diese Regel ist für seine Karriere der schleichende Anfang vom Ende, das spürt er deutlich. Er ist nun mal - wie die meisten Keeper seiner Generation - ein Torhüter der alten Schule, er möchte Bälle halten, Tore verhindern. Er will nicht mitkicken, nicht erster Aufbauspieler sein. Und wie der Zufall oder das Schicksal es will, ist es Erich Ribbeck, der ihn 1995 zur Nummer 2 degradiert und Dirk Heinen zur Nummer 1 macht. Irgendwann bei einem Spaziergang vor dem Spiel in Rostock fragt Ribbeck Vollborn, wie es ihm denn mit seiner Entscheidung gehe. Und Vollborn antwortet: „Trainer, Sie sind der einzige Coach, bei dem ich diese Entscheidung akzeptiere. Denn wenn Sie nicht gewesen wären, wäre ich nicht mehr bei Bayer 04. Bei jedem anderen Trainer hätte ich Theater gemacht.“
Zwölf Jahre lang war er die unangefochtene Nummer 1 der Werkself, 397 Bundesligaspiele hatte er bis dahin absolviert. Jetzt spielt er nur noch die zweite Geige. Und trotzdem soll die schönste Saison seiner Karriere noch kommen.
Mehr dazu in Teil 2 in der kommenden Woche...