Rüdi­ger Voll­born: Der Mann, der (fast) alles über Bayer 04 weiß

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Er ist seit fast 40 Jahren im Verein, mit 401 Bundesligaeinsätzen der Rekordspieler des Klubs und hat als einziger Bayer 04-Profi sowohl den UEFA-Cup (1988) als auch den DFB-Pokal (1993) gewonnen. Grund genug, dem ehemaligen Torhüter von Schwarz-Rot gleich zwei Teile im Rahmen unserer Serie zu widmen. Im ersten Teil ging es um seine Anfänge unterm Bayer-Kreuz und seine Zeit als Nummer 1 der Werkself.  Teil 2 beschäftigt sich nun mit seiner ausklingenden aktiven Karriere und seinen neuen Aufgaben als Torwarttrainer, Fanbeauftragter und Vereins-Archivar.

Die komplette Saison 1995/96 verfolgt Rüdiger Vollborn als Nummer 2 von der Bank aus. Wie alle anderen, denen Bayer 04 etwas bedeutet, zittert er im letzten Spiel gegen Kaiserslautern um den Klassenerhalt. Als der durch den legendären Treffer von Markus Münch zum 1:1 gesichert ist, beginnt in Leverkusen eine neue Zeitrechnung. Der Umbau des Ulrich-Haberland-Stadions zum viel zitierten Schmuckkästchen kann fortgesetzt werden. Viel wichtiger aber ist: Christoph Daum kommt. „Er hat uns, den schlafenden Riesen, der wir - ohne es zu wissen - waren, wachgerüttelt“, sagt Vollborn. Dabei kommen zur neuen Saison 96/97 gar keine großen Namen an die Dhünn. Bayer 04 verpflichtet Erik Meijer und Jan Heintze vom Bundesliga-Absteiger Bayer 05 Uerdingen, Niko Kovac vom Zweitligisten Hertha BSC, seinen Bruder Robert von Zweitliga-Absteiger 1. FC Nürnberg, den 22-Jährigen Jens Nowotny vom Karlsruher SC, den Luxemburger Manuel Cardoni, Lars Leese als dritten Torhüter und - als teuersten Transfer - den Brasilianer Zé Elias. Es bleiben Spieler  wie Christian Wörns, Markus Happe, Calle Ramelow, „Zecke“ Neuendorf, Mike Rietpietsch, Hans-Peter Lehnhoff, Markus Feldhoff, Paulo Sergio und Ulf Kirsten.

Daum formt aus dieser Truppe eine verschworene Gemeinschaft. Aber zunächst einmal lässt er sie ordentlich schwitzen. Im ersten Trainingslager zieht er jeden Tag drei Einheiten gnadenlos durch. Allmorgendlich lässt er die Mannschaft exakt 32 Minuten laufen. „Trainer, warum laufen wir eigentlich immer 32 und nicht 30 Minuten?“, will Vollborn einmal von ihm wissen. „Weil ich es so sage“, antwortet Daum mit einem Grinsen im Gesicht. Der neue Coach packt das Team mit seinen Methoden, seiner besonderen Ansprache. „Er verlangte immer Vollgas, immer volle Pulle, erklärte uns seine Fußball-Philosophie wie einst Dettmar Cramer“, erzählt Vollborn. Vor der Saison führt Daum mit jedem Spieler Vier-Augen-Gespräche. Er fragt Vollborn, wie denn seine persönliche Startelf aussehen würde. Der Torhüter schreibt sie auf einen Zettel und Daum stutzt, als er darauf den Namen Dirk Heinen liest. „Warum hast du dich nicht selber als Nummer 1 aufgeschrieben?“, fragt Daum. „Weil’s unfair wäre“, entgegnet Vollborn, „Dirk war in der vergangenen Saison maßgeblich daran beteiligt, dass wir nicht abgestiegen sind. Er hat überragend gehalten. Und hätte er Pavel Kuka nicht die Kugel vom Fuß geholt, wär’s das für uns gewesen, dann hätte es 2:0 für Lautern gestanden und wir wären ziemlich sicher abgestiegen.“ Daum weiß, dass Vollborn für ihn ein wichtiger Spieler sein wird. Die Nummer 2 hat nichts von ihrem Ehrgeiz verloren, trainiert wie eh und je besessen und ist als dienstältester Profi und jemand, der weiß, wie man Titel gewinnt, von großem Wert für ihn. Jens Nowotny ist der vom Trainer bestimmte Spielführer, aber der heimliche Kapitän in der Kabine wird in dieser ersten Daum-Saison Rüdiger Vollborn.

 

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Anfang 1997 gewinnt Rüdiger Vollborn mit der Mannschaft noch einmal als Nummer 1 ein Hallenturnier in Berlin.
Wir haben eine Stimmung in der Mannschaft, das können Sie sich nicht vorstellen

Auch einem anderen Mann kommt eine wichtige Aufgabe zu: Roland Koch erweist sich als der optimale Co-Trainer. „Es funktionierte bei den beiden ein bisschen nach dem Prinzip ‚Good Cop, bad Cop‘“, sagt Vollborn. „Roland nahm diejenigen in den Arm, die Daum zuvor zusammengefaltet hatte.“ Die Saison beginnt zwar mit einer Pokal-Niederlage in Bremen, aber schon beim 4:6 nach Elfmeterschießen zeigt Bayer 04 eine starke Leistung. Zum Bundesliga-Auftakt begeistert das Team beim 4:2 gegen den amtierenden Meister Borussia Dortmund, dann folgt ein 3:1-Sieg beim MSV Duisburg. Vollborn ist euphorisch. Vor dem nächsten Heimspiel gegen Fortuna Düsseldorf geht er nach dem gemeinsamen Mittagessen zum Trainertisch und sagt: „Nur zur Info, Trainer: Wir können in dieser Saison Deutscher Meister werden.“ Daum und Koch schauen ihn an: „Wie kommste denn darauf?“ - „Wir haben eine Stimmung in der Mannschaft, das können Sie sich nicht vorstellen“, sagt Vollborn mit einem breiten Lächeln.

Diese Stimmung wird dann aber just auf eine erste Probe gestellt. Denn die Partie gegen Düsseldorf geht 0:1 verloren. Hätte Vollborn doch bloß nichts gesagt! Und am folgenden Spieltag unterliegt das Team beim Rekordmeister Bayern München sang- und klanglos 2:4. Was nun? War’s das erstmal mit der Guten-Laune-Truppe? Noch in München gibt’s auf dem Hotelzimmer von Kapitän Nowotny eine Krisensitzung, an der die gesamte Mannschaft und Co-Trainer Roland Koch teilnehmen. Man spricht sich aus und nimmt sich vor, nach dem nächsten Heimspiel gegen 1860 München eine Party zu veranstalten. Die Münchner Löwen werden mit einem 3:0 nach Hause geschickt, anschließend trifft sich das Team samt Frauen und Freundinnen aber ohne Trainer bei Zecke Neuendorf, dessen Vermieter über einen großen Partykeller verfügt. Dort hatte man schon nach dem 1:1 gegen Kaiserslautern die „Gott-sei-Dank-wir-sind-nicht-abgestiegen-Fete“ gefeiert. Jetzt wird die Party im großen Kreis nach jedem Heimspiel zum Ritual. „Von 20 Uhr bis Mitternacht haben wir regelmäßig die Sau rausgelassen“, erinnert sich Vollborn. Die Mannschaft bleibt in den nächsten zehn Spielen ungeschlagen, am Saisonende reicht es zwar nicht ganz zum Titel. Aber Bayer 04 wird erstmals Vizemeister, mit nur zwei Punkten Rückstand auf die Bayern. Holt die meisten Siege (21), schießt die zweitmeisten Tore (68) und begeistert seine Fans. In erster Linie ist das ein Verdienst von Christoph Daum. „Er hat es geschafft, jedem Spieler das Gefühl zu vermitteln, er sei elementar wichtig für diese Mannschaft“, nennt Vollborn einen Grund für die „Auferstehung“ des Vereins. Er selber zum Beispiel ist in dieser Saison, obwohl nur noch die Nummer 2, für die Einteilung bei Ecken gegen das eigene Team zuständig. Vollborn bestimmt, dass Erik Meijer etwa stets am kurzen Pfosten steht. „Der Erik war als Kopfball-Zweikämpfer nicht unbedingt der Gefürchtetste, aber wegen seiner Größe da vorne am kurzen Eck genau richtig positioniert.“ Meijer selbst fand diese Begründung übrigens wenig plausibel.

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Rüdiger Vollborn sitzt zwar fast nur noch auf der Bank, aber er bleibt extrem wichtig für das Team.

Keine Frage: Daum wird seinem ihm vorauseilenden Ruf als Motivationskünstler mit geradezu magischen Führungsqualitäten auch in Leverkusen gerecht. „Du brauchtest ihm nur ein Wort zuwerfen, sagen wir Streichholz, dann hat er dir völlig klar und logisch erklärt, warum dieses Streichholz nötig ist, damit wir das nächste Spiel gewinnen“, erzählt Vollborn. „Du hast da gesessen, hingst an seinen Lippen und hättest am liebsten sofort gespielt, weil du so heiß warst.“

Vollborn selbst kommt in dieser ersten Daum-Saison nur einmal zum Einsatz: Am letzten Spieltag beim 2:0-Sieg gegen den VfL Bochum, bei dem es um nichts mehr geht. Es spricht für seine Uneitelkeit, dass er, der Rekordspieler von Bayer 04, der als einziger Profi beide Vereinstitel gewonnen hat, diese Spielzeit 1996/97, in der er nur einmal für 90 Minuten zwischen die Pfosten darf, als seine insgesamt schönste in Leverkusen bezeichnet.

Es folgen in den weiteren Jahren die erste Champions-League-Teilnahme und zwei weitere Vize-Meisterschaften. 1997/98 hütet Vollborn zweimal das Bayer 04-Tor: Beim 6:1-Heimsieg gegen Stuttgart kurz vor Weihnachten und schließlich noch einmal beim Spiel gegen Hertha BSC, dem Klub aus seiner Heimatstadt, am 33. Spieltag. Es ist Vollborns großes Jubiläum: sein 400. Bundesliga-Einsatz mit dem Kreuz auf der Brust. Der 35-jährige Keeper wird an diesem 2. Mai 1998 von den Fans gefeiert. Dass das Spiel mit 0:1 verloren wird, ist schade, tut aber der Stimmung keinen Abbruch. Bayer 04 ist Dritter (mit weitem Abstand auf Platz zwei), der UEFA-Cup gesichert und Vollborn, der nur durch einen Elfmeter von Kjetil André Rekdal bezwungen wird, stolz und glücklich.

Gut ein Jahr später erlebt Vollborn den nächsten Gänsehaut-Moment. Im letzten Saisonspiel gegen den bereits feststehenden Meister Bayern München schließt sich ein Kreis. Sein erstes Bundesligaspiel hatte Vollborn 1983 im Olympiastadion absolviert. Jetzt, 16 Jahre später, darf er ein letztes Mal in den Kasten. Wieder gegen die Bayern. Wieder geht es 1:2 verloren. Aber Vollborn genießt die letzten zehn Minuten, als er für Adam Matysek eingewechselt wird, in vollen Zügen. Die Fans in der BayArena verabschieden ihn mit Ovationen. Sein 401. Bundesliga-Einsatz wird sein letzter bleiben. In der kommenden Saison fungiert Vollborn hinter Matysek, Frank Juric und Dirk Heinen noch als Stand-by-Torhüter. Einige Male sitzt er noch auf der Bank, aber zum Einsatz kommt er nicht mehr.

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Ein bewegender Abschied: Nach seinem 401. Bundesliga-Einsatz für Bayer 04 feiern die Fans Rüdiger Vollborn noch ein letztes Mal.

Schon 1999 beginnt Vollborn mit seiner zweiten Karriere bei Bayer 04. Er wird Co-Trainer unter Peter Hermann bei den Amateuren. Aber eigentlich kümmert er sich hauptsächlich um die Torhüter. Zunächst vor allem um Romuald Peiser und Maurice Gillen. Schnell aber auch um die Junioren-Keeper von der U19 bis runter zur U15. „Ich war plötzlich auch Jugend-Torwarttrainer und bin da in eine Rolle hineingerutscht, die ich ursprünglich gar nicht ausfüllen wollte“, erinnert sich Vollborn. Auch beim DFB ist er als Coach des Torhüter-Nachwuchses aktiv. Jörg Daniel heißt damals der Verantwortliche für die Torwart-Ausbildung der deutschen U15-Auswahl. Einmal hat er bei einem Lehrgang acht Torhüter dabei. Er sagt zu Vollborn: „Einer von ihnen ist richtig gut. Aber ich verrate dir nicht wer.“ Der Leverkusener soll selbst rausfinden, wen Daniel meint. Es fällt ihm nicht schwer. An der Art, einen einfachen Ball zu fangen, erkennt Vollborn, dass es sich nur um einen handeln kann: Es ist der Junge aus Leipzig, es ist René Adler. „Es war unglaublich, er hatte einen völlig anderen Bewegungsablauf als alle anderen“, sagt Vollborn, der nach dem ersten Training seine Frau anruft und ihr begeistert erklärt: „Du, ich hab den kommenden National-Torhüter gesehen.“

Als er wieder zurück in Leverkusen ist, fragt ihn Frank Schäfer, der damalige B-Jugendtrainer von Bayer 04: „Du hast doch diesen Adler gesehen. Wie war der?“ - „Eine absolute Granate“, sagt Vollborn. „Dann müssen wir ihn holen.“ - „Wie bitte? Der ist erst 14“, staunt Vollborn. „Ja und“, sagt Schäfer, „dann müssen wir jetzt zugreifen, sonst holt ihn jemand anders.“ Vollborn hält den Zeitpunkt für verfrüht, rät Adler, noch mindestens ein, zwei Jahre in Leipzig zu bleiben. Aber Adler antwortet ihm: „Nein, ich will dahin, wo du bist.“

Also verpflichtet Bayer 04 das große Talent zur Saison 2000/01, findet aber zunächst keine Gasteltern für den Jungen. Noch im Juni, Juli ist nicht klar, wo René Adler wohnen soll. Da springt Vollborn ein, lässt kurzerhand sein Dachgeschoss umbauen, in dem bis dato seine beiden Söhne Fabrice und Jérome ihren Spielbereich hatten, und nimmt im August 2000 den Nachwuchs-Keeper in seiner Familie auf. Für die nächsten vier Jahre lebt Adler nun bei den Vollborns.

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Premiere für seinen Ziehsohn: Torwarttrainer Vollborn mit dem Bundesliga-Debütanten René Adler beim Spiel auf Schalke im Februar 2007.
Es war unglaublich, er hatte einen völlig anderen Bewegungsablauf als alle anderen

Als Torwarttrainer der Profis löst Vollborn Toni Schumacher im Sommer 2003 ab. Bis zum Bundesliga-Debüt seines Ziehsohnes René Adler vergehen noch vier Jahre. Bis dahin ist Jörg Butt als Nummer 1 gesetzt. Aber während einer Rot-Sperre für den Platzhirschen schlägt die Stunde von Adler. Auf Schalke macht der damals 22-Jährige im Februar 2007 beim 1:0-Sieg der Werkself ein überragendes Spiel. Fortan bleibt er im Kasten, Butt wechselt im Sommer zu Benfica Lissabon. Und Adler - einmal abgehoben - zieht schnell ganz oben seine Kreise. Schon im Sommer 2008 nimmt ihn Bundestrainer Joachim Löw mit zur EM in Österreich/Schweiz, wo Adler aber noch nicht zum Einsatz kommt. Sein Länderspiel-Debüt gibt der gebürtige Leipziger in der WM-Qualifikation beim 2:1 gegen Russland im Oktober 2008. Vollborns Prophezeiung aus dem Januar 2000 scheint in Erfüllung zu gehen. Adler werden gute Chancen eingeräumt, Deutschland bei der WM 2010 in Südafrika als Nummer 1 oder Nummer 2 zu vertreten. Aber kurz vor dem Saisonende fällt er wegen eines Rippenbruches aus und muss für das Turnier absagen. Seine Verletzungsanfälligkeit verhindert auch in den kommenden Jahren eine Karriere beim DFB. Es werden letzlich nur 12 Länderspiele, die er für das Löw-Team absolviert.

In Leverkusen fördert und fordert ihn Rüdiger Vollborn. Und er geht dabei nicht immer zimperlich mit seinem Schützling um. Bei einem Spiel gegen Wolfsburg brüllt er Adler in der Halbzeitpause noch auf dem Platz auf dem Weg in die Kabine an. Er schubst ihn und kriegt sich kaum noch ein.  Und alle sehen es, die Kameras gehen voll drauf auf diese Szene. Was war passiert? Adler hatte sich in der ersten Halbzeit einmal beim Rauslaufen derbe verschätzt und war nicht an den Ball gekommen. Die meisten denken, dass Vollborn ihn deshalb so anpflaumt. Der Grund war aber ein anderer. „René hatte sich in der ersten Hälfte fürchterlich über seine Vorderleute aufgeregt. Er war stinksauer auf die Mannschaft und ich war mir sicher, dass er sie in der Kabine zusammenstauchen würde. Ich wusste aber auch, dass er sich damit im Verein jede Menge Ärger würde einhandeln können. Davor wollte ich ihn schützen. Ich wollte nicht, dass er sich um Kopf und Kragen brüllt.“ Da wird Vollborn lieber selber laut. Aber er weiß, dass es ein Fehler war, dies auf dem Platz zu tun. Der Kabinengang hätte es auch getan. „René sagte danach zu mir: ‚Mach das bitte nie wieder vor der Öffentlichkeit‘.“

Rene Adler und Rüdiger Vollborn

Für ihn selber endet nach der Saison 2011/12 seine zweite Karriere bei Bayer 04 als Torwarttrainer. Und sein dritter Lebensabschnitt im Klub beginnt. Vollborn wird Fanbeauftragter. Er, der sich einst ungeliebt fühlte von der eigenen Anhängerschaft, kümmert sich nun – Ironie des Schicksals – um Fanbelange. Das hätte er sich 1984 auch nicht träumen lassen. Wobei: Der eigentliche Schwerpunkt seiner Arbeit liegt schon recht bald in der historischen Aufarbeitung der Vereinsgeschichte. Als Bayer 04-Geschäftsführer Michael Schade aus dem ehemaligen VIP-VINII-Weinlokal im Osten der BayArena die Schwadbud gestalten lässt, die nicht nur Fan-Treffpunkt vor den Spielen sein soll, sondern auch als eine Art Vereins-Museum konzipiert ist, wird Vollborn als Klub-Legende, Rekordspieler und historisches Gedächtnis von Bayer 04 hinzugezogen. Wer weiß denn besser, was es auszustellen gibt, was zeigenswert ist, als er, der seit 1981 alles miterlebt hat, der als einziger beide Vereinstitel gewonnen hat.

Gut, in die weiter zurückliegende Geschichte, in die Zeit der Zweiten Liga und die der Oberliga West bis hin zu den Wurzeln von Bayer 04 muss er sich noch einarbeiten. Aber er stürzt sich auch in diese neue Aufgabe mit einer Leidenschaft und Akribie, die ihn schon als Profi und Torwarttrainer ausgezeichnet haben. Er vertieft sich in das, was sein Vorgänger als Vereins-Archivar, Werner Röhrig, schon fleißig gesammelt hatte. Er studiert das, was Walter Scharf bereits über die Anfänge der Klubgeschichte festgehalten hatte. Und er verbringt Stunde um Stunde im Leverkusener Stadt-Archiv, sichtet dort alles, was mit Bayer 04 zu tun hat. Vollborn trifft sich mit Zeitzeugen, scannt massenweise historische Fotos, beschriftet, ordnet Namen und alte Trainingsstätten zu, recherchiert zur Trikothistorie - und deckt so manchen Irrtum auf. Wie den, dass das Spiel zur Einweihung des Ulrich-Haberland-Stadions eben nicht, wie lange verbreitet, gegen den 1. FC Kaiserslautern, sondern gegen Fortuna Düsseldorf stattgefunden hat. Auch, wenn’s um Spieldaten geht, ist Vollborn penibel. Ob das entscheidende Spiel für den Aufstieg in die Bundesliga, das 3:3 gegen Uerdingen, an einem Samstag (wie vielfach behauptet) oder Sonntag ausgetragen wurde, ist ihm nun mal nicht egal. Der 13. Mai 1979 war natürlich ein Sonntag.

Ich war immer stolz darauf, ein Teil dieses Vereins zu sein
Rüdiger Vollborn

Was ist es, das ihn in diesem neuen Job antreibt und ihn auch hier mit einer solchen Begeisterung arbeiten lässt? „Als damals der Name Werkself noch als Beschimpfung gemeint war, war ich schon stolz darauf“, setzt Vollborn zu einer Erklärung an. „Wir waren nicht beliebt. Aber ich war immer stolz drauf, ein Teil dieses Vereins zu sein, beim Underdog zu spielen, Schmähungen über sich ergehen zu lassen. Ich fand es immer ungerecht, uns unsere Historie absprechen zu wollen. Denn einige Vereine, die sich so gerne auf ihre Tradition berufen, wissen gar nicht, wo wir herkommen. Der 1. FC Köln zum Beispiel hat nie in der Dritten Liga gespielt. Die haben sich, zum Leidwesen vieler anderer Kölner Klubs, gleich in der Zweiten Liga breitgemacht. Wir hingegen haben uns von ganz unten nach ganz oben gearbeitet.“

Seine Beziehung zu Bayer 04 sei durch die intensive Beschäftigung mit der Vereinsgeschichte noch inniger geworden, sagt Vollborn. Längst lässt er sein Wissen nicht mehr nur in die Gestaltung der Schwadbud oder die der Umgriffebene in der BayArena einfließen, auf deren Wänden seit einigen Jahren die Konterfeis von Klub-Helden in Street-Art-Manier zu sehen sind. Vollborn ist inzwischen von einem Sendungsbewusstsein erfüllt, er will die Bayer 04-Geschichte weitertragen, lebendig halten - und er tut dies im Rahmen seiner stark nachgefragten Legenden-BayArena-Touren, bei denen er höchst persönlich interessierte Fans durchs Stadion führt. Oder bei anderthalbstündigen Vorträgen über die Klubgeschichte in der Schwadbud. Oder bei Stadtrundfahrten mit dem Schwadbus zu Stätten der Vereinshistorie wie dem ersten Spielort, dem alten Dhünnplatz, der längst nicht mehr existiert. Heute hängen die Fans an seinen Lippen wie er einst an denen von Dettmar Cramer und Christoph Daum hing. Darüber hinaus ist Vollborn regelmäßiger Gast beim W11-Fantalk nach den Heimspielen und gefragter Gesprächspartner auch beim Werks11-Radio.

Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass es niemanden in der großen Bayer 04-Familie gibt, der - aus eigenem unmittelbaren Erleben gleichermaßen wie aus vertiefender Recherche - über ein so umfassendes Wissen über den Klub verfügt, wie Rüdiger Vollborn. Er könne, wenn er wolle, eine lückenlose Spielhistorie inklusive aller Aufstellungen und Torschützen von sämtlichen Bayer 04-Pflichtspielen seit 1950 zu Papier bringen. Man glaubt’s ihm sofort. „Und ich habe noch so viele Schätze, die die Menschen sehen sollten“, sagt Rüdiger Vollborn. Der Mann ist zweifellos ein Glücksfall für den Verein, dem auch in Zukunft der Stoff nicht ausgehen wird.