Plötz­lich in der Traum­welt

Piero Hin­ca­pie im Por­trät

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In den vergangenen zwei Jahren hat Piero Hincapie mehr erlebt als viele andere Fußballer im gesamten Leben. Der Ecuadorianer wurde Profi, debütierte in der Nationalmannschaft, wechselte nach Argentinien und dann nach Deutschland. Er selbst kann das alles noch immer „gar nicht glauben“, hat sich aber in Leverkusen bestens eingefügt. Ein weiteres Kapitel seiner Erfolgsstory schrieb er erst in dieser Woche: Der 20 Jahre alte Verteidiger hat sich mit Ecuador für die WM in Katar qualifiziert.

Piero Hincapie starrt auf sein Handy. Das hügelige Profil der Provinz Pichincha, das hinter der Scheibe des Mannschaftsbusses vorbeizieht, nimmt er kaum wahr. Vulkane, Berge – er kennt die Landschaften Ecuadors von unzähligen Bus-Touren zu Auswärtsspielen. Sein Blick verharrt auf dem Display seines Smartphones. Sergio Ramos ist zu sehen, wie er in der Champions League köpft, grätscht, motiviert. Hincapie kennt den Verteidiger mindestens so gut wie das draußen vorbeiziehende Panorama – doch im Gegensatz zu den Landschaften hofft er, beim intensiven Studium seines Vorbildes immer wieder neue Details zu erspähen. Als er da im Bus sitzt, versunken in YouTube-Videos, da weiß Hincapie noch nicht, dass er sich mit jeder Fahrt zu den Auswärtsspielen des Klubs Independiente del Valle dem Traum einer internationalen Profi-Karriere nähert.

Über Argentinien nach Deutschland

Nicht einmal zwei Jahre später ist er Duellen mit dem einstigen Idol plötzlich näher als den ecuadorianischen Anden. Der mittlerweile 20-Jährige sitzt bester Laune in der BayArena. Eingehüllt in einen flauschigen Kapuzen-Pullover berichtet er von all den Geschehnissen, die er seit den oft achtstündigen Touren im Mannschaftsbus erlebt hat. Von den zahlreichen unverhofften Wendungen in seinem Leben – und vom eigenen Erstaunen. „Ich bin auch überrascht von den Ereignissen und habe es noch gar nicht realisiert. Es ist alles so schnell gegangen, meine Familie kann es auch nicht glauben. Ich hätte vor zwei Jahren niemals gedacht, dass ich schon als 18-Jähriger nach Argentinien wechseln würde, knapp ein Jahr später nach Deutschland und dann sogar regelmäßig in der Bundesliga spiele. Alle meine Erwartungen wurden bereits übertroffen.“

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In 18 Monaten um die Welt. Independiente del Valle, Talleres Cordoba, Bayer 04 Leverkusen. Ein rasanter Aufstieg; zwei verschiedene Welten. Die Erinnerungen an die Heimat sind frisch, die Zeit vor dem Leben als europäischer Fußball-Profi noch klar vor Augen. Denn Hincapie kennt plötzliche Veränderungen, sie zeichneten schon früh seinen Weg.

Bereits als Zehnjähriger verließ er seine Heimat, um Fußball zu spielen. Er zog aus dem Elternhaus in Esmeraldas nach Guayaquil, ins Internat des Klubs CS Norte América. „Es gab gute und schwierige Phasen. Meine Eltern haben sich immer sehr um mich und meine beiden Geschwister gekümmert. Es ging uns gut und wir hatten jeden Abend eine Mahlzeit auf dem Tisch: Das ist in Ecuador nicht selbstverständlich und ich bin dankbar, dass ich nie mit leerem Magen schlafen musste. In Guayaquil war das Essen manchmal knapp. Aber Gott sei Dank ging es mir immer gut.“

Die Danksagung an den Herrn hat für Hincapie eine große Bedeutung. Zum einen ist er wirklich dankbar für all das, was er erleben darf, zum anderen ist die Beziehung zu Gott eine tragende Säule im Leben des Fußballers. „God is Love“ steht auf seinem Hals geschrieben, ein kleines Kreuz hat er sich zudem hinter das rechte Ohr tätowieren lassen. „Gracias a Dios“ schiebt er jedes Mal hinterher, wenn er über die guten Dinge spricht, die ihm zuletzt widerfahren sind.

Aus vielen Angeboten für Bayer 04 entschieden

Die Liste ist lang. Mit seinem ersten Profi-Verein Independiente del Valle gewann er das südamerikanische Pendant zur europäischen Youth League durch einen Finalsieg gegen River Plate aus Buenos Aires. Es folgten die Debüts in der ersten Liga Ecuadors und im Nationalteam – bei der Copa América – sowie der Wechsel in die erste argentinische Liga nach Cordoba; und schließlich der Transfer nach Leverkusen. Der bislang größte Schritt seines noch jungen Lebens. Und einer, der sich bereits gelohnt hat. „Ich hatte verschiedene Angebote aus Europa und habe gründlich überlegt. Ich habe mit meiner Familie gesprochen, mit mir selbst, mit Gott – und mich dann für Bayer 04 entschieden. Ich hatte großen Respekt vor dem Land und der Sprache, doch auch meine Familie hat immer wieder betont, dass hier viele Latinos spielen – und das teilweise seit vielen Jahren. Das war ein wichtiger Grund. Denn wenn sie so lange bleiben, müssen sie sich hier wohlfühlen.“

Ich fühle mich wie ein Sohn des Klubs

Trotz der irritierenden Kälte hat er sich rasch an die neue Umgebung und die internationalen Teamkollegen gewöhnt. „Ich habe sofort gespürt, dass dieser Klub sehr familiär ist. Alle behandeln dich gut, vom Koch bis zum Greenkeeper. Man wird morgens von jedem Mitarbeiter gegrüßt, das ist nicht überall so. Ich fühle mich wie ein Sohn des Klubs.“ Ein Gefühl, das ihm die Ankunft erleichtert hat – und das er schon bei Independiente als besonders erachtet hat.

„Del Valle hat eine der besten Akademien Südamerikas. Sie bringen dir nicht bloß bei, Fußball zu spielen, sondern vermitteln dir auch Werte. Es gibt dort Talente, die haben Vater und Mutter verloren, der Klub beschützt sie wie Söhne. Das ist fundamental für junge Spieler – ebenso wie die Chance, früh in der ersten Mannschaft spielen zu können. Das alles ist in Leverkusen sehr ähnlich. Darum fühle ich mich sehr wohl und wurde darin bestätigt, dass Bayer 04 der perfekte Klub für den Schritt nach Europa ist.“

Der Junge mit dem seltsamen Namen

In nur wenigen Monaten hat er durch starke Leistungen seinem Namen eine nicht für möglich gehaltene Bekanntheit jenseits des Atlantiks verschafft. Argentinische Medien hatten dies schon früh vorhergesagt – allerdings begründeten sie dies damals noch mit der besonderen Schreibweise und dem „é“ in seinem Nachnamen. Die These: Mit diesem Namen fällt man auf. „El pibe con el nombre raro“ – „der Junge mit dem seltsamen Namen“ hießen sie ihn in Cordoba deshalb willkommen. Angesprochen auf die Zeile lacht Hincapie. „Die ist gut“, sagt er. Und erklärt: „Der Akzent ist ungewöhnlich und dadurch wird der Name ganz anders ausgesprochen. Ich mag den Klang und deshalb betone ich den Namen auch so. Auf dem Trikot finde ich den Akzent aber blöd, darum steht er da nicht drauf. Ich bin selbst also noch immer unentschlossen.“

Nach seiner Ankunft in Leverkusen entschloss er sich gemeinsam mit Bayer 04, den Akzent in der offiziellen Schreibweise wegzulassen. Unstrittig ist dennoch, dass Piero Martin Hincapie Reyna seinen Namen mit Stolz trägt. Die Verbindung zur Familie ist das Wichtigste für den Profi. Sein älterer Bruder ist mit ihm nach Deutschland gezogen, seine Mama ruft noch immer „jeden Tag besorgt an“. Zudem ist die Verwandtschaft eine wichtige Motivation für die intensive Arbeit. „Ich verdiene plötzlich sehr viel Geld für unsere Verhältnisse. Das ist mir persönlich gar nicht so wichtig, ich will einfach nur Fußball spielen. Aber ich habe nun die Chance, meiner Familie zu helfen. Klar gönne ich mir auch mal etwas, aber das Wichtigste ist für mich, dass ich meinen Eltern und allen anderen etwas zurückgeben und dafür sorgen kann, dass sie ein ruhiges Leben führen. Das Gehalt meiner Oma etwa reicht zum Leben nicht aus. Wenn irgendwann alle versorgt sind, kann ich mir auch mal ein paar teurere Dinge leisten.“ Dass Reichtum allein zum Glücklichsein ausreicht, stellt er allerdings in Frage: „La felizidad no se compra“ – Fröhlichkeit kann man sich nicht kaufen.

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Was die Laune des Talents nachweislich anhebt, sind sportliche Triumphe. Und es schaut ganz danach aus, dass Hincapie seine Erfolgsstory im Jahr 2022 weiterschreibt. Mit Ecuador hat er die WM-Qualifikation erreicht, mit Bayer 04 winkt die Erfüllung eines weiteren großen Traums: Spiele in der Königsklasse. „Titel zu gewinnen ist mein großer Ansporn. Und von der Champions League habe ich schon als kleiner Junge in Ecuador geträumt. Ich werde alles dafür tun, um dort dabei sein zu dürfen.“

Erreicht er mit Bayer 04 den besten Klub-Wettbewerb der Welt, könnte Piero Hincapie auf einen alten Bekannten treffen, mit dem er einst in Ecuador viele Stunden im Bus verbracht hat. Sollte es dazu kommen, wird Sergio Ramos der Name seines einstigen Fans in Erinnerung bleiben – mit oder ohne Akzent auf dem e.

Der Beitrag ist dem Werkself Magazin #35 entnommen, das im März 2022 erschienen ist. HIER geht's zu den kostenlosen Online-Blätterkatalogen aller bisherigen Werkself Magazine.