Mike Riet­pietsch

Punk­mu­sik, Pri­vi­le­gien und Karls­ba­der Schnit­ten

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Im Mittelpunkt von Teil fünf der Serie „30 Jahre Wiedervereinigung“ auf bayer 04.de steht Mike Rietpietsch. Der gebürtige Brandenburger kickte Mitte der 90er drei Jahre lang für die Werkself, bereitete 1996 im „Abstiegs-Endspiel“ gegen den 1. FC Kaiserslautern das so unendlich wichtige 1:1 von Markus Münch vor und gewährt jetzt Einblicke in seine Jugend in Frankfurt an der Oder. Wie war das Leben an einer der berühmt-berüchtigten Sportschulen der DDR? Welche Privilegien genoss er? Welche Musik hörte er? Und wie erlebte er die Wendezeit? 

Am Abend, als die Mauer fiel, saß Mike Rietpietsch im thüringischen Sonneberg bei seiner Tante vor dem Fernseher. Die „Spielzeugstadt“ lag nur etwa drei Kilometer von der deutsch-deutschen Grenze entfernt. „Das war tiefste Zone, man lebte dort nicht unbedingt am Puls der Zeit“, sagt Mike. Er war 15 damals und nur zu Besuch aus Frankfurt an der Oder gekommen. Er staunte über die Bilder der vor Glück weinenden Menschen in Berlin. „Aber ich selber habe nicht gejubelt, mich hat das Ganze nicht sonderlich bewegt“, sagt er heute im Rückblick auf diesen 9. November 1989.

Ihm ging’s gut damals, ihm fehlte nichts. Er hatte es auf die Kinder- und Jugendsportschule (KJS) in Frankfurt-Oder geschafft, auf der schon DDR-Stars wie Henry Maske ausgebildet worden waren. „Wobei das ja ein relativ normaler Weg in der DDR war: Wenn du ein bisschen geradeaus laufen konntest, kamst du in die Sportschule. Die haben ja schon im Kindergarten gesichtet, dann wurde man zu den Vereinen gelotst.“

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Mutter legte Veto ein

Mike wuchs in Eberswalde, 60 Kilometer nordöstlich von Berlin auf. Mit dem Kicken begann er bei der BSG Stahl Finow. Als man das Talent des Jungen am Ball erkannte, wollte man ihn schon mit zwölf auf die KJS holen. Mutter Elvira legte ihr Veto ein. „‚Nee, noch nich, det is mein Einziger, der bleibt noch ein Jahr zu Hause‘, hat meine Mutti da gesagt“, erzählt Mike und muss lachen.

Mit 13 durfte er dann schließlich doch nach Frankfurt-Oder. Der Alltag im Internat war streng geregelt: zwei Stunden Unterricht, zwei Stunden Training, eine Stunde Mittagessen, zwei bis drei Stunden Unterricht und noch einmal zwei Stunden Training. Aber das Sportschulen-Leben gefiel dem Jungen. Zumal er spätestens mit Beginn seiner Lehre zum KFZ-Mechaniker auch ordentlich verdiente. Wer, wie Mike, kein Abitur hatte, stand im C-Kader, bekam 500 Mark Lehrlingsgeld und obendrauf nochmal dieselbe Summe fürs Fußballspielen. „1.000 Mark, das war damals richtig viel Geld für einen Jugendlichen“, sagt Mike. Ihm ermöglichten das hübsche Sümmchen und sein Status als talentierter Fußballer ein privilegiertes Leben im Arbeiter-und-Bauern-Staat. Auch in der Sportschule genossen die Kicker einen besonderen Status. Und wer pfiffig war, konnte sich durchaus ein bisschen Abwechslung vom zuweilen tristen Internatsleben verschaffen.

Bierchen für die Boxer

Dazu musste man nur einen guten Draht zu den Gewichthebern und Boxern haben. Denn die waren, strategisch günstig, im Erdgeschoss untergebracht, während die Fußballer ihre Räume im vierten Stock der Schule hatten. Wollte man also den Zapfenstreich mal überziehen, blieb nur eine Möglichkeit: „Wenn wir uns abends um 22 Uhr brav bei der Aufsicht zurückgemeldet hatten und wieder in unseren Zimmern waren, zogen wir uns schnell unsere Bademäntel über, gingen wieder runter, an der Aufsicht vorbei und rein zu den Gewichthebern oder Boxern. Und dann ab durchs Fenster wieder zurück in die Disco.“ Dort zeigten sich die Fußballer dann in der Regel erkenntlich und spendierten ihren muskelbepackten Internatskollegen ein paar Kaltgetränke. „Ein Bier kostete damals 40 Pfennige; da warst du mit zehn Mark schon ganz weit vorne“, sagt Mike. Wenn’s mal Stress gab, schickte man halt seine starken Mitschüler vor. Nur erwischen lassen durfte man sich nicht bei diesen abendlichen Ausflügen. Wer mehr als einmal aufflog, durfte die Koffer packen. „Für den war’s das dann mit der Karriere als Sportler.“

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Punk statt Puhdys

Weil er zu den cleveren Burschen gehörte, die zudem gut bei Kasse waren, war das Leben Ende der 80er Jahre recht angenehm für Mike Rietpietsch. Von Reisen nach Spanien oder Italien träumte er eh nie. Ostsee und Harz taten es auch. Gelegentlich fuhr er mit ein paar Kumpels nach Polen, „wo es dann mal eine Coca-Cola gab“. Seine Oma durfte ab und zu in die BRD reisen. Sie brachte dann Pakete mit Westwaren mit, die es sonst nur im Intershop – dem Kaufhaus des Westens in der DDR –gab. „Ach, die Intershops“, fällt Mike ein. „Da konnten wir die Forumschecks einlösen. Jeder in der DDR kannte diesen speziellen Intershop-Geruch: eine Mischung aus Waschmittel und Kaugummi. Ich habe mir tatsächlich immer Spearmint-Kaugummis dort gekauft. Oder West-Schokolode. Manchmal waren im Budget auch ein Paar Turnschuhe drin.“

Westlich geprägt war auch Mikes Musikgeschmack. Damals konnte er noch nichts anfangen mit DDR-Bands wie den Puhdys, Karat oder City, die er erst viel später, nach der Wende, für sich entdeckte. Die meisten seiner Freunde aus Eberswalde standen auf die Punk-Kultur, waren zum Teil selber Punks. „Wir hörten die Sex Pistols und Bad Religion, auch Die Ärzte, die ihre Wurzeln ja im Punkrock haben“, sagt Mike. Weil er kein Schallplattensammler war, nahm er die Songs aus dem (West-)Radio mit seinem Kassettenrekorder auf, den er zur Jugendweihe geschenkt bekommen hatte. „Und du musstest schon Glück haben, dass der nicht nur Musik abspielen, sondern eben auch aufnehmen konnte.“

Seine Ausbildung als Fußballer nahm derweil ihren ganz normalen sozialistischen Gang. Mike spielte für den Armee-Sportklub FC Vorwärts Frankfurt in der DDR-Liga, der zweithöchsten Spielklasse. Später, so viel stand fest, wären DDR-Oberliga und Nationalmannschaft seine Ziele gewesen. Dynamo Dresden hätte er sich gut vorstellen können. Als 11-Jähriger sah er das legendäre 3:7 von Dynamo im UEFA-Cup bei Bayer 05 Uerdingen im Fernsehen. „Was für ein Spiel, was für ein Drama. Ich war fix und fertig nach dem Schlusspfiff“, erinnert er sich. Oder er wäre in Frankfurt/Oder geblieben und hätte neben der Fußballer-Karriere noch die klassische Soldatenlaufbahn eingeschlagen.

Erste Profischritte bei den „Eisernen“

Aber dann kamen Wende und Mauerfall. So wenig ihn die politischen Ereignisse zunächst auch tangierten, stellten sie mit der Zeit auch sein Leben gehörig auf den Kopf. Mike wohnte inzwischen mit einem Mannschaftskollegen in einer Ein-Zimmer-Wohnung, als ein Angebot vom 1. FC Union Berlin kam.

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Mit 20 wechselte er zu den „Eisernen“ in die Hauptstadt des seit drei Jahren wiedervereinigten Deutschland. Trainer Frank Pagelsdorf machte aus dem gelernten Mittelfeldspieler einen Abwehrspieler, weil sich Marko Rehmer, der etatmäßige rechte Verteidiger, schwer verletzt hatte. Rietpietsch brach seine Ausbildung zum KFZ-Mechaniker ab, konzentrierte sich ausschließlich auf den Fußball und wurde mit Union – wo damals übrigens auch Sergej Barbarez spielte, der später ebenfalls in Leverkusen kicken sollte – souveräner Meister in der Oberliga Nordost.

Durchstarten im Westen

Bei einigen Spielen hatten ihn die Scouts von Bayer 04 beobachtet und für gut befunden. Der inzwischen 21-Jährige erhielt ein Angebot des Bundesligisten und wagte den Schritt ins Rheinland. „Vor der Wende dachte ich immer: Die im Westen sind besser. Aber als ich sah, wie Thom, Kirsten und Sammer die Bundesliga rockten, wurde mir klar, dass wir aus dem Osten nicht nur mithalten können, sondern fußballerisch auch besser ausgebildet waren“, sagt Rietpietsch. Warum also sollte es nicht auch bei ihm klappen mit dem Durchstarten im Westen?

Vor den großen Namen hatte er zwar gehörigen Respekt. Aber wenn man die Chance bekam, auf dieses Karussell aufzuspringen, dann musste man sie nutzen. „Ich saß neben Bernd Schuster in der Kabine, außerdem waren da noch Ulf Kirsten, Andy Thom, Paulo Sergio, Ioan Lupescu und etwas später kam dann noch Rudi Völler – das war eine Wahnsinnstruppe.“ 

Der einzige Vollspannstoß seiner Karriere

„Riete“, wie er von Freunden genannt wird, blieb drei Jahre unterm Bayer-Kreuz, machte in dieser Zeit „nur“ 30 Pflichtspiele für Schwarz-Rot. Aber ohne ihn, wer weiß, wäre der Klub 1996 vielleicht aus der Bundesliga abgestiegen. Denn es war der freche Ossi, der sich am letzten Spieltag gegen den 1. FC Kaiserslautern in der 82. Minute beim Stand von 0:1 ein Herz fasste und mit seinem Distanzschuss das vielleicht wichtigste Tor der Vereinsgeschichte vorbereitete. Er wird diese Szene nie vergessen: „Ich hatte in dieser Partie eigentlich nur die Aufgabe, Uwe Wegmann von Kaiserslautern aus dem Spiel zu nehmen. Weil der aber nach hinten nicht so viel machte, konnte ich mich ab und zu nach vorne einschalten. Rudi Völler spielte mir den Ball im Mittelfeld zu, ich dachte: Mist, mir kommt ja überhaupt keiner entgegen, und eine Anspielstation habe ich auch nicht – also hau doch einfach mal drauf. Ich glaube, es war der einzige Vollspannstoß meiner Karriere, sonst kam ich ja eher vom Schlenzen.“

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Der Rest ist bekannt: FCK-Keeper Reinke konnte Rietpietschs Flatterball nur nach vorne abklatschen, Markus Münch drosch den Ball zum 1:1 in die Maschen. Klassenerhalt! „Wir haben gefeiert, als wären wir Meister geworden. Dabei war es eigentlich eine Frechheit, dass wir mit diesem Kader eine solche Saison gespielt hatten“, erinnert sich Mike, der Bayer 04 ein Jahr später verließ und dann auf eine lange Wanderschaft durch Fußball-Deutschland ging. Düsseldorf, Freiburg, Bochum, Oberhausen, Duisburg, Kiel, Wuppertal, Bonn und Ratingen hießen seine weiteren Stationen. Nur in Oberhausen blieb er länger als drei Jahre.

Lebemann mit großer Klappe

Mike Rietpietsch, eine „Berliner Schnauze“ par excellence, weiß, dass er mehr aus sich hätte rausholen können. „Zum einen hat mir meine große Klappe das eine oder andere Mal geschadet, weil Trainer wie Volker Finke oder Ernst Middendorp gar nicht darauf konnten. Zum anderen war ich auch immer ein bisschen Lebemann, der gerne sein Bier trinken gehen wollte.“ Der heute 46-Jährige sagt das ganz ohne Groll. Er bereut fast nichts. Nur, dass er 1997 das Angebot von Christoph Daum abgelehnt hat, in Leverkusen zu bleiben, anstatt nach Düsseldorf zu wechseln, das bedauert er tatsächlich im Nachhinein. „Wahrscheinlich hätte ich noch ein paar erfolgreiche Jahre bei Bayer haben können.“

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Sei’s drum. Rietpietsch ist glücklich, lebt seit 2012 mit seiner Partnerin Silke in Leipzig. Hat ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Ex-Frau, telefoniert täglich mit seinen beiden Kindern. Beruflich betreibt er die Firma Subline Sports, die individuelle Shirts im sogenannten Sublimationsverfahren herstellt, und ist Mit-Inhaber der Fußballschule Kick’n Body, die Standorte in München, Osnabrück, im Ruhrgebiet und in Leipzig hat.

In der Messestadt hatte Silke, die sechs Jahre älter ist als Mike, die Wende 1989 ganz anders erlebt als er. „Sie marschierte bei den Montags-Demonstrationen mit. Und sie sagt mir heute noch, wenn sie die Bilder davon in Fernseh-Dokumentationen sieht, es sei ein unglaubliches Glück gewesen, dass keiner die Nerven verloren hat und alles friedlich geblieben ist.“ Während Mike 1989 staunend aber nahezu unberührt am TV-Gerät saß, war seine heutige Partnerin sofort nach Berlin aufgebrochen, um die bunten Lichter auf dem Ku’damm erleben zu können. „Ich war privilegiert und vermisste nichts, sie fühlte sich eingesperrt und sehnte sich nach Freiheit.“ 

Karlsbader Schnitte, Soljanka und Co.

Heute schwelgen beide gerne ein bisschen in Ostalgie. Nein, sie wünschen sich nicht zurück in die DDR. „Aber Gott sei Dank hat sich ja vieles ohnehin erhalten und ist wieder zu haben“, lacht Mike und erzählt von einem Golfturnier in Zwickau, bei dem er kürzlich einen Campingbeutel – also einen Rucksack – mit typischen DDR-Sachen bekommen habe. Dazu gab es an den Imbissständen Karlsbader Schnitten, die Ostvariante des Toast Hawaii – nur mit Gewürzgurke statt Ananasscheibe. Gefehlt zum puren Glück hätten nur noch eine Portion Würzfleisch und ein Teller Soljanka, der Eintopf, der ursprünglich aus der russischen Küche stammt.

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Pünktlich zum Tag der Deutschen Einheit kehren Silke und Mike übrigens von einer mehrwöchigen Reise durch die Toskana zurück. Mit dem Wohnmobil waren sie unterwegs in Siena, Lucca und Pisa. Eine Tour, die für beide vor der Wende niemals möglich gewesen wäre. 


Hier geht es zu den weiteren Teilen der Serie:
Teil 1: 30 Jahre Wiedervereinigung – Ein Glücksfall für Bayer 04
Teil 2: Scholles" Spiel für die Geschichtsbücher
Teil 3: Reiner Calmund: „Ich hatte Tränen in den Augen"
Teil 4: Falko Götz: „Sehr froh, dass der Schritt erfolgreich war"