Neun Pflichtspiele verpasste Mitchel Bakker verletzungsbedingt. Ende Oktober vergangenen Jahres hatte sich der Niederländer ein Knochenödem im linken Sprunggelenk zugezogen, darüber hinaus einen Kapsel-Riss sowie einen Anriss des linken Außenbandes davongetragen. Beim 1:2 in Freiburg kurz vor Weihnachten kam der 21-Jährige in der Schlussphase ins Spiel und feierte sein Comeback auf dem Rasen. Beim 2:2-Remis gegen den 1. FC Union Berlin am 8. Januar zum Auftakt ins Kalenderjahr 2022 stand Bakker nicht nur in der Startelf, sondern auch über die volle Distanz auf dem Platz. Der Linksverteidiger hat sich mit einer souveränen Leistung zurückgemeldet. Das folgende Porträt über den U21-Nationalspieler der Niederlande ist dem Werkself Magazin #33 entnommen, das Mitte Oktober 2021 erschienen ist.
Mitchel Bakker kommt aus Purmerend, wechselte als Kind zu Ajax Amsterdam und ging als Teenager zu Top-Klub Paris St.-Germain, wo er mit dem einstigen Idol Neymar die linke Seite teilte und 2021 das Halbfinale der UEFA Champions League erreichte. Seit Sommer spielt der 21-Jährige bei Bayer 04 – und hat Fans und Experten schnell beeindruckt.
Purmerend verfügt über eine spezielle Magie. Die Stadt mit ihren rund 80.000 Einwohnern schmiegt sich an Amsterdam, lediglich rund 15 Kilometer liegen zwischen den zentralen Plätzen. Den Purmerander Mittelpunkt ziert ein prachtvoller Nachbau einer Kuh, die auf einem meterhohen Sockel thront. Die Rinder sind das Wahrzeichen des im Jahr 1600 errichteten Koemarkts, der für lange Zeit der größte niederländische Viehmarkt war und die Stadt landesweit bekannt machte. Im Jahr 1938 schließlich wurde in Purmerend Geschichte geschrieben – zumindest für die Fußballwelt: Martin Koeman, Spieler- und Trainer-Legende des FC Groningen, wurde geboren. Sein Sohn Ronald sollte als Fußballspieler und Trainer weltweiten Ruhm erlangen – als Europameister und Legende des FC Barcelona.
Doch Koemarkt und Koeman sind nicht die einzigen Exportschlager. Hans Klok machte Magie ‚Made in Purmerend‘ in den 90er Jahren überraschend berühmt. Mit seinen Shows in Las Vegas begeisterte der Zauberer die Zuschauer rund um den Globus. Auf den Straßenseiner Heimatstadt sah man ihn deshalb nur noch selten, wie Mitchel Bakker erzählt: „Ich kenne niemanden, der ihn mal getroffen hat. Aber er ist ein Star in Holland und ein wirklich guter Goochelaar.“
Der Gaukler ist eine Legende, für die junge Generation der Kleinstadt gibt es längst einen neuen Star. Mitchel Bakker spielte in Amsterdam, Paris und Leverkusen groß auf und hat – ganz im Purmerender Trend – für einige magische Momente gesorgt. Auch schon bei Bayer 04: Nach seiner Ankunft im Sommer dieses Jahres erzielte er das erste Leverkusener Tor der Vorbereitung und beim 4:0 gegen Mönchengladbach den ersten Heimtreffer der Saison. „Es läuft bislang sehr gut, und ich fühle mich hier sehr wohl. Es ist toll, auch Tore zu schießen“, sagt Bakker – und lachte angesichts seiner vorherigen Statistiken: „Da standen in den Tor-Spalten viele Nullen.“
Dass ihn seine erste Station in Deutschland einmal nach Leverkusen führen würde, war 2006 nicht abzusehen, als der damals Sechsjährige erstmals für den FC Purmerend auflief. Zwar hatte es Vater Edwin als Profi in die Eredivisie geschafft, aber wem war nicht geschuldet, dass sein Nachwuchs früh in den Fokus der Talentspäher geriet. Nach vier Jahren in Purmerend steht Besuch aus der Hauptstadt an der Haustür – und so landete ein Angebot von Ajax Amsterdam auf dem Wohnzimmertisch. Eine Offerte, die das Leben des damals Neunjährigen schlagartig verändern sollte. Von nun an lernte er die Autobahn nach Amsterdam so gut kennen wie den Weg zur Schule. Vier Mal pro Woche fuhr ihn seine Mutter in die weltberühmte Ajax-Talentschmiede. Ein Traum, der schon im Kindesalter wahr wurde. Das Ajax-Emblem auf der Brust tragen zu dürfen, war eine große Ehre. „Der Wechsel war besonders, ich war sehr glücklich. Bei Ajax habe ich viele Freunde kennengelernt. Wir hatten alle denselben Traum, Ajax wurde mein zweites Zuhause.“
Im Gegensatz zu Hans Klok, der sich früh der Erschaffung von Illusionen gewidmet hatte, fokussierte sich der junge Mitchel Bakker darauf, immer neue Träume real werden zu lassen. Er spielte sich durch die verschiedenen Altersklassen, wurde Junioren-Nationalspieler und erreichte im Jahr 2018, was er sich seit seinem Wechsel acht Jahre zuvor zum Ziel gesetzt hatte: Er war Mitglied der Profi-Mannschaft. Zuvor hatte er dieser nur als Balljunge in der Arena geholfen. Eine „prägende und motivierende“ Erfahrung: „Es war schon damals ein Traum, selbst dort zu spielen, aber man ist noch ein Kind und weiß nicht, was passieren wird. Ich habe bei Ajax viele Spieler kommen und gehen gesehen. Es war damals noch ein weiter Weg zu gehen.“
Selbst die Zielgerade, auf der er sich nach dem Einstieg ins regelmäßige Profi-Training befand, wurde lang und länger. Zwölfmal im Liga-Kader, einmal im Aufgebot in der Champions-League-Qualifikation – das war die Bilanz im Jahr 2018, bevor er sein Pflichtspiel-Debüt feiern durfte: Im September bestritt er im niederländischen Pokal endlich sein erstes offizielles Spiel für die Profis von Ajax. Es folgten eine weitere Partie im Pokal, jeweils ein Bank-Job in Liga und Champions League; doch die Eredivisie blieb ihm verwehrt. Und so wechselte er 2019 ins Star-Ensemble von Paris St. Germain – mit der eher spärlichen Erfahrung von null Ligaspielen in den Niederlanden. „Diesen seltsamen Wechsel hatte niemand erwartet. Ich glaube, man muss als junger Spieler auch sehr selbstbewusst sein, um diesen Schritt zu wagen. Aber ich war sehr glücklich über das Angebot und die Chance, mit so prominenten Spielern zusammenzuspielen.“
Und so zog Bakker mit 18 Jahren aus Purmerend nach Paris. Weg von seiner Familie, hin zu seinen Vorbildern. „Das war eine besondere Erfahrung, man macht vieles allein und muss sich durchkämpfen, daran wächst man.“ An Motivation mangelte es nicht. Besonders die Aussicht, Kabine und Rasen mit Neymar zu teilen, beflügelte den Teenager. „Barcelona war früher mein Lieblingsklub. Vor allem in der Zeit von Messi, Suarez und Neymar habe ich sehr viele Spiele geschaut. Natürlich war es besonders, nun mit Neymar zusammenzuspielen. Dazu kamen noch all die anderen wie Mbappé, Cavani und Di Maria. Es war schon außergewöhnlich, diese Spieler kennenzulernen.“
An die ersten Tage in Paris kann er sich noch bestens erinnern. Plötzlich mit den einstigen Idolen zu trainieren, fühlte sich zunächst noch surreal an. Doch mit der Zeit wurde es zum Alltag des Außenverteidigers. Aus Stars wurden Kumpel. „PSG ist ein Verein mit vielen großen Spielern. Es war super für mich, dazuzugehören. Am Anfang schaut man sich noch alles an, dann ist man dabei und es wird normal – auf und neben dem Platz. Sie haben mir viele Tipps gegeben und mich besser gemacht. Man trainiert auf höchstem Niveau und sieht täglich, was einem noch fehlt.“
Die harte Arbeit in einem der besten „Ausbildungscamps“ der Welt wurde im Februar 2020 belohnt – Bakker absolvierte sein erstes Liga-Spiel. Kurz danach wurde die Saison in Frankreich Corona-bedingt unterbrochen – und der Niederländer aufgrund eines Einsatzes französischer Meister. Als die Liga im Sommer wieder loslegte, war alles anders. Die Fans waren verschwunden – und Bakker war gesetzt. Thomas Tuchel baute auf den Niederländer, der nun mit dem früheren Idol Neymar zusammen die linke Seite bekleidete. Ligue 1, Pokal, Champions League – Bakker überzeugte in Paris. Als „impressive combination of steel and silk“, also als „beeindruckende Kombination aus Stahl und Seide“, wurde er auf der offiziellen Homepage der Ligue 1 respektvoll beschrieben. Die bemerkenswerte Mischung aus Technik und Power fiel auf und wurde wertgeschätzt, Bakker selbst fühlte sich immer wohler im Star-Ensemble, wie er damals betonte: „Ich bin ein ziemlich offensiver Linksverteidiger. Ich bin schnell und stark, das sind meine Hauptqualitäten, und ich hoffe, sie hier zu zeigen.“
Das tat er regelmäßig, bis im Dezember 2020 ein sportliches Beben den Klub erschütterte. Trainer und Förderer Thomas Tuchel wurde entlassen, die Einsatzzeiten sanken. Im April 2021 aber erlebte er dann etwas überraschend doch noch das bis heute „größte Spiel meines Lebens“: Im Halbfinale traf PSG auf Manchester City – und Bakker stand plötzlich wieder in der Startelf. „Ich hatte nicht damit gerechnet, als ich zum Spiel gefahren bin. Dann habe ich meinen Namen auf der Wand gesehen. Ich habe es genossen, auch wenn wir leider 1:2 verloren haben und im Rückspiel ausgeschieden sind.“
Trotz der Erfahrung auf dem größten Parkett des Klubfußballs war Bakker nicht mehr glücklich in Paris. Es fehlte das geliebte Adrenalin des Spieltags, die wöchentlichen Duelle mit Top-Spielern. Die Lösung hieß Leverkusen. Aus den zahlreichen Offerten wählte er Bayer 04, nach „hervorragenden Gesprächen“ mit der Klubführung und Trainer Gerardo Seoane: „Meine Familie und ich hatten sofort das Gefühl, dass das der richtige Schritt ist. Ich mag die Bundesliga, sie ist in den Niederlanden sehr populär und hat nach der Premier League das beste Niveau. Ich bin glücklich, hier zu sein.“
Auf der linken Außenbahn zeigte Bakker fortan, was er einst als Stürmer in der Ajax-Schule gelernt hatte: angreifen und Tore schießen. Die Treffer führten zu großen Emotionen – und stellten ihn kurzzeitig vor Probleme: „Da ich ja vorher nie getroffen hatte, wusste ich gar nicht, wie ich jubeln soll. Das war lustig. Ich bin einfach durch die Luft gesprungen“, sagt er und lacht. Was auf der Tribüne der BayArena kaum jemand wusste: Die Tor-Premiere in der Liga gegen Mönchengladbach war auch das erste Pflichtspiel vor großer Kulisse. In Paris hatte er vor maximal „zwei- bis dreitausend Leuten“ gespielt, so begann die Profi-Laufbahn in Leverkusen nochmal auf eine neue Art und Weise.
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