Lucas Ala­rio: „Mein Office ist der Straf­raum“

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Lucas Alario spielt seine bislang beste Saison bei Bayer 04. Der Argentinier hat in allen drei Wettbewerben regelmäßig getroffen und führt das teaminterne Torjäger-Ranking an. Im Interview mit dem Werks11 Magazin spricht der 28-Jährige über die Gründe für seine Formstärke, die Bedeutung der zahlreichen südamerikanischen Spieler bei Bayer 04 für das persönliche Wohlbefinden sowie die Besonderheit, mit Lionel Messi auf dem Platz zu stehen...

Lucas, du bist in Tostado, einem kleinen Dorf im Norden Argentiniens, aufgewachsen, dein Vater hatte einen Hof. Wie hat dir das Leben gefallen?
Alario: „Mein Vater hat als Landwirt gearbeitet und hatte auch mehrere Felder. Als ich klein war, habe ich viel Zeit dort verbracht und bin so aufgewachsen. Noch heute bin ich gern in der Natur, um rauszukommen und mal abzuschalten. Ich genieße dann die Ruhe und bin froh, wenn das Zwitschern der Vögel das einzige ist, was ich höre.“

Als kleiner Junge wolltest du unbedingt einen Hahn haben. Warum ausgerechnet dieses eher als Ruhestörer bekannte Tier?
Alario: „Ich weiß es auch nicht. Ich war ein Kind und habe meinen Vater so lange genervt, bis er mir einen gekauft hat. Als ich ihn bekommen habe, war ich sehr glücklich. Jetzt habe ich aber keinen mehr. Wenn ich heute darüber nachdenke, kommt es mir auch ein wenig verrückt vor.“ (lacht)

Im Gegensatz zu einer anderen Vorliebe: Barfuß spielst du noch immer gerne…
Alario: „Klar, am liebsten spiele ich ohne Schuhe. Der Ballkontakt ohne Schuhe ist der beste, den es gibt. Fußballspielen macht so auch am meisten Spaß – das gilt nicht nur für die Brasilianer an der Copacabana, sondern auch für uns im Norden Argentiniens.“

Du warst Fan der Boca Juniors, hast dann aber als Profi mit Erzrivale River Plate die Copa Libertadores gewonnen, also die südamerikanische Champions League. Beide Klubs verbindet die vielleicht größte Rivalität im Weltfußball. Wie bist du damit umgegangen?
Alario: „Meine Familie kommt aus Sante Fe, da ist man Fan meines Heimatklubs Club Atlético Colón. Aber natürlich sind auch die großen Vereine sehr beliebt. Mein Vater und meine Brüder mochten immer die Boca Juniors, also hatte ich auch Sympathien. Aber als ich zu River Plate gewechselt bin, sind alle River-Fans geworden. Auch wenn das in Argentinien eine absolute Ausnahme ist. Aber meine Familie ist natürlich in erster Linie Fan von dem Klub, bei dem ich spiele. Diese Verbindung ist noch stärker als die zum Verein, auch wenn die in Argentinien als die konstanteste des Lebens gilt. (lacht) Ich bin River sehr dankbar, sie haben mir vertraut, mich aus der zweiten Liga aus Colón geholt, einen besseren Spieler aus mir gemacht und es mir ermöglicht, Titel zu gewinnen. Das werde ich nie vergessen und den Klub immer im Herzen tragen.“

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Auch in Deutschland gibt es große Rivalitäten zwischen den Klubs, du hast schon in einem der Derbys auf dem Platz gestanden. Argentinien gilt als leidenschaftlichstes Fußball-Land der Welt, was ist der Unterschied?
Alario: „Generell ist die Fan-Kultur in Südamerika nur schwer mit der in Europa zu vergleichen. Die Fans in Argentinien sind viel verrückter. Der Fußball bestimmt das Leben vieler Menschen, doch manchmal führt diese Manie auch zu schlimmen Ereignissen, das ist die negative Seite. Hier sind die Fans auch sehr emotional, vor allem das Derby gegen Köln ist etwas Besonderes. Aber insgesamt gehen Spieler und Fans respektvoller miteinander um.“

Bayer 04 hat eine lange Tradition südamerikanischer Spieler. Diego Placente ist sogar zu einem Klubidol geworden. Wie hast du den Verein in deiner Kindheit wahrgenommen?
Alario: „Diego hat viele Jahre hier gespielt, in der vielleicht bisher stärksten Epoche dieses Klubs. Er hat eine große Historie bei Leverkusen, und man kennt ihn in Argentinien in diesem Trikot. Bayer 04 wird in Argentinien als einer der ganz großen Klubs betrachtet, der immer oben dabei und ein Stammgast in der Champions League ist.“

Bayer 04 wird in Argentinien als einer der ganz großen Klubs betrachtet, der immer oben dabei und ein Stammgast in der Champions League ist.

In Südamerika hat der Bayer-Konzern lange mit dem Satz „es Bayer, es bueno“, es ist von Bayer, es ist gut, geworben…
Alario: „Jeder in Argentinien kennt die Werbung, und Bayer hat einen guten Ruf. Dass ich jetzt mit dem Bayer-Logo auf dem Trikot spiele, ist witzig. Das hätte ich nie gedacht. Ich kenne Bayer schon quasi mein Leben lang.“

Du trägst bei Bayer 04 die Nummer 13. Eine besondere Zahl, die hier zuvor Klub-Legenden wie Michael Ballack und Rudi Völler getragen haben. War es eine bewusste Wahl?
Alario: „Ich habe sie damals bei River Plate genommen, weil sie frei war. Wahrscheinlich war ich der Einzige, der keine Angst vor ihr hatte (lacht). Ich bin nicht abergläubisch und habe mit ihr große Erfolge gefeiert und sie deshalb behalten. Rudi Völler war ein herausragender Stürmer, der alles gewonnen hat. Ich habe großen Respekt vor ihm und würde gern mal ausführlich mit ihm über Fußball und seine Karriere sprechen.“

Was bedeutet es dir, dass im aktuellen Kader gleich fünf weitere Spieler aus Südamerika stehen?
Alario: „Wir sind viele (lacht) – aus Argentinien, Kolumbien, Chile, Brasilien. Das ist sehr wichtig für mich. Der Humor unter uns ist ein bisschen anders und tut uns gut. Wir lachen im Training und helfen uns gegenseitig, verbringen auch privat viel Zeit miteinander. Wenn es zeitlich möglich ist, grillen wir zusammen. Mate-Tee trinken, ein richtiges argentinisches Asado: Das sind Dinge aus der Heimat, auf die ich hier in Deutschland nicht verzichten kann. Als Exequiel (Palacios; d. Red.) vor einem Jahr zu uns kam, war ich sehr glücklich. Wir haben bereits bei River Plate zusammengespielt und ein super Verhältnis. Es ist noch mal etwas Anderes, einen weiteren Argentinier, einen Freund im Team zu haben.“

Die Länder haben in der Vergangenheit – auch auf dem Fußballfeld – große und kleine Konflikte ausgetragen. Sind die Rivalitäten hier fern der Heimat vergessen?
Alario: „Besonders zu Chile ist das sportliche Verhältnis nach den Final-Niederlagen bei der Copa America in den Jahren 2015 und 2016 sehr angespannt. Aber ich persönlich habe mit niemandem Probleme. Wenn sich jemand mir gegenüber anständig verhält, ist alles gut – egal, wo er herkommt oder wo er gespielt hat. Unser Kapitän Charles Aránguiz ist Chilene, er ist für das gesamte Team, aber auch speziell für uns Latinos sehr wichtig. Seine Erfahrung, sein Temperament und seine Persönlichkeit sind absolut vorbildlich.“

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Großer Moment: Lucas Alario trifft 2015 im Finale der Copa Libertadores für River Plate gegen UANL Tigres.

Final-Niederlagen gab es seit 1990 auch gegen Deutschland regelmäßig…
Alario: „So ist das im Fußball, man muss lernen, damit umzugehen. Ich mag den deutschen Fußball und bin ihm sehr dankbar, er hat mir die Tür nach Europa geöffnet. Hier bin ich ein noch besserer Fußballer geworden und habe mich auch als Mensch weiterentwickelt. Ich lebe nun hier und mir geht es sehr gut. Dennoch war es für mich etwas Besonderes, 2019 in Dortmund mit der argentinischen Nationalmannschaft gegen Deutschland zu spielen und sogar ein Tor zu schießen. Es war für das ganze Land sehr wichtig, nicht schon wieder gegen Deutschland zu verlieren. Ich war sehr froh, dass wir nach dem 0:2 auch dank meiner Hilfe noch den Ausgleich geschafft haben.“

Du hast in der Albiceleste, der argentinischen Nationalmannschaft, auch mit Lionel Messi zusammengespielt. Er ist einer der besten Spieler, die der Fußball hervorgebracht hat, und eine nationale Ikone. Wird da auch ein gestandener und international erfahrener Spieler wie du nervös?
Alario: „Es hat mir viel bedeutet und ich habe mich sehr darauf gefreut. Man beobachtet ihn, er ist einer der ganz Großen des Weltfußballs und des gesamten Sports. In jedem Winkel der Welt kennt man Leo. Als ich ihn dann das erste Mal gesehen und mit ihm gesprochen habe, war es ein seltsames Gefühl. Ich kannte ihn ja wie jeder andere auch gefühlt seit Jahren aus dem Fernsehen und von unzähligen Spielen, dann stand ich mit ihm in der Umkleide, und er war ein ganz normaler Typ. Wenn man dann viel Zeit miteinander verbringt, zusammen frühstückt, trainiert und zu Abend isst, wird die andere Realität langsam Normalität. Ich hoffe, dass ich nochmal mit ihm zusammenspielen kann.“

Ich habe hier viel gelernt und gesehen, warum das Land so erfolgreich ist, wie es ist: Lebensqualität, Disziplin, alles funktioniert, auch Erziehung und Bildung sind vorbildlich.

Hast du besonderen Druck verspürt, als du das erste Mal mit ihm auf dem Platz gestanden hast?
Alario: „Zweifelsohne versucht man seine bestmögliche Leistung zu zeigen und keine Fehler zu machen, um ihn nicht zu verärgern. (lacht) Natürlich drückt man ihm auch nicht einfach einen Spruch auf dem Feld. Aber alles, was ihn als Fußballspieler und weltweiten Star auszeichnet, repräsentiert er auch beim Fußball: Er liebt das Spiel und ist nicht abgehoben, das ist schon beachtlich bei allem, was er erreicht hat. Aber klar, beim ersten Training lässt es einen nicht kalt, und die Nerven werden besonders beansprucht.“

Am 25. November des Vorjahres ist Diego Maradona im Alter von nur 60 Jahren verstorben. Im Gegensatz zu Lionel Messi hast du ihn nie kennengelernt. Die Bilder der Trauerfeier aus Buenos Aires gingen um die Welt und haben viele Menschen auch außerhalb Argentiniens sehr berührt. Was hast du empfunden?
Alario: „Die Nachricht kam sehr überraschend. Diego Maradona hatte viele Tiefs und brenzlige Momente in seinem Leben, aber er hat es letztendlich immer wieder geschafft. Und wir dachten alle, dass es auch dieses Mal nach dem Herzinfarkt wieder gut ausgehen wird. Sein Tod ist sehr traurig – für mich und das gesamte Land. Es hätte mir viel bedeutet, ihn persönlich kennenzulernen, doch leider habe ich ihn nie getroffen. Wir haben ihn dafür geliebt, was er Argentinien auf dem Rasen gegeben hat. Er hat das Land sehr stolz und Argentinien auf der ganzen Welt bekannt gemacht. Die weltweiten Huldigungen aus dem Profi-Fußball haben noch einmal gezeigt, was für ein herausragender, besonderer Spieler er war und was er diesem Sport gegeben hat. Wir werden ihn nun bestmöglich in Erinnerung behalten: im Stadion, also dort, wo er immer sein wollte und immer glücklich war.“

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Maradona oder Messi – kann und darf man diese Frage als Argentinier beantworten?
Alario: „Diese Frage wurde nach Diegos Tod natürlich oft gestellt. Aber ich vergleiche beide nicht miteinander. Es ist besser, beide zu genießen – Messi so lange es noch geht als aktiven Spieler und Maradona auf alten Videos. Als Argentinier sollten wir dankbar und auch ein bisschen stolz sein, zwei solche Ausnahmespieler hervorgebracht zu haben.“

Messi wird in Argentinien „La Pulga“, der Floh, genannt. Dein Spitzname in Argentinien ist „El Pipa“, die Pfeife. Wie bist du dazu gekommen?
Alario: (lacht) „In meinem Jugendverein in Santa Fé habe ich mit Jorge Higuain zusammengespielt. Dessen Vater wurde aufgrund seiner langen und nach vorn gespitzten Nase ,El Pipa‘ genannt. Weil ich eine ähnliche Nase wie Jorge Higuain habe, erhielt ich von meinem Jugendtrainer denselben Namen. Seitdem habe ich ihn, und ich mag ihn auch. Meine große Nase stört mich nicht, und ein solcher Spitzname ist in Argentinien ganz normal. Spitznamen, wie auch bei Messi, sind oft witzig und und regen zum Schmunzeln an. Wir nehmen uns gern auf den Arm, es gibt auch zahlreiche Spieler, die liebevoll ‚El Gordo‘, der Dicke, genannt werden. Das ist nie abwertend gemeint.“

Viele Spieler, die über den Atlantik wechseln, müssen sich in der Bundesliga umstellen. Was waren für dich die größten Unterschiede?
Alario: „Man muss ehrlich sagen, dass es auch Spieler gibt, die sofort durchstarten. Ich musste zu Beginn sehr hart arbeiten. Die höheren physischen Anforderungen haben am meisten Kraft gekostet. Die Liga ist sehr ausgeglichen, die Spiele sind hart umkämpft. Es hat gedauert, bis ich mich an die Intensität im Training gewöhnt habe. Ich musste daran arbeiten, in den Schlussphasen der Spiele mehr Kraft zu haben. Das ist der größte Fortschritt, den ich spüre. Ich habe mehr Power.“

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Der Strafraum ist sein Revier: Lucas Alario sieht sich als klassischer Neuner.

Ist das ein Grund für deinen persönlichen Aufschwung in dieser Saison? Oder wie begründest du deine herausragende Hinserie?
Alario:
„Da kommt vieles zusammen. Kevin Volland und Kai Havertz, zwei wichtige Offensivspieler, haben den Klub verlassen. Dadurch ist eine Lücke entstanden. Der Konkurrenzkampf war sehr groß, beide haben überragend gespielt, darum war meine Spielzeit geringer. Der Trainer wusste aber auch damals schon, dass er immer auf mich zählen kann. Zu Saisonbeginn hat sich Patrik Schick dann leider verletzt, und ich war da, als die Mannschaft mich gebraucht hat. Dass ich regelmäßig spielen durfte, hat mir gutgetan. Und dann hatte ich das Glück, regelmäßig zu treffen. Nun fühlt es sich sehr gut an. Für einen Stürmer sind Tore der beste Endorphin-Schub, den man sich vorstellen kann.“

In allen Teams und Wettbewerben ist deine Torquote beachtlich – nicht erst seit dieser Saison. Du bist ein klassischer Neuner und somit ein Spielertyp, der immer seltener wird…
Alario:
„Ich habe schon immer in der Spitze gespielt und war derjenige, der die Angriffe abgeschlossen hat. Mein Spiel war es nie, großartig auf die Außen auszuweichen. Mir gefällt diese Position vorne drin, aber ich erledige auch die Arbeit, die die Mannschaft benötigt: anlaufen, nach hinten arbeiten, Bälle gewinnen. Aber mein Office ist der Strafraum. Nah am Tor, zum Abschluss bereit.“

Hast du nach mittlerweile dreieinhalb Jahren in Leverkusen auch ein paar typisch deutsche Eigenschaften für dich entdeckt?
Alario: „Auf jeden Fall. Ich habe hier viel gelernt und gesehen, warum das Land so erfolgreich ist, wie es ist: Lebensqualität, Disziplin, alles funktioniert, auch Erziehung und Bildung sind vorbildlich. Beides ist schon früh auf höchstem Niveau, und das bringt die Menschen enorm voran. Florian Wirtz zum Beispiel kommt immer direkt nach der Schule zum Training, verpasst kaum eine Einheit und macht neben dem Profi-Fußball noch seinen Abschluss. So etwas existiert in Südamerika nicht. Man wird vor die Entscheidung gestellt: Fußball oder Ausbildung. Deutschland ermöglicht den Menschen sehr viel.“

Ich habe schon immer in der Spitze gespielt und war derjenige, der die Angriffe abgeschlossen hat.

Und was fehlt dennoch aus der Heimat?
Alario:
„Das ist schwer zu sagen. Natürlich gibt es viele Dinge, die ich vermisse. Angefangen bei der Familie, Freunden und der Sonne. Andererseits lebt man in Europa und speziell in Deutschland in einer anderen Realität. Man muss nicht mit vier Augen leben, wie wir es in Argentinien nennen, und sich ständig umdrehen aus Angst, ausgeraubt zu werden. Das Sicherheitsgefühl ist für uns Latinos hier eine wichtige Errungenschaft und ein großer Unterschied zur Heimat. Das kann man wohl gar nicht realisieren, wenn man nie in Südamerika gelebt hat.“

Deine Eltern waren schon mehrfach zu Besuch im Rheinland. Gefällt es ihnen auch?
Alario: „Ja, aber leider waren sie bislang immer nur im Winter hier. Und dann ist es ein anderes Land. Draußen ist es kälter, auch die Menschen sind kälter. Ich würde mich freuen, wenn sie mal das sonnige Deutschland kennenlernen, wenn auch hier die Menschen das Leben nach draußen verlagern, alles grün ist, alle fröhlich sind und im Freien gegrillt wird.“

Gibt es etwas, dass dir in Deutschland noch immer schwerfällt?
Alario: „Sprechen. (lacht) Ich mache große Fortschritte und verstehe sehr viel. Aber ich würde wirklich gern besser Deutsch sprechen, um auch mal richtige Gespräche in dieser Sprache führen zu können. Das ist derzeit noch ein Kampf. Aber er lohnt sich. Kommunikation ist sehr wichtig, um Menschen kennenzulernen und ihnen zu zeigen, wie man wirklich tickt.“