Exe­qu­iel Pala­cios: Mein größ­tes Duell

Das längste Finale der His­to­rie

crop_exequiel.jpg

Die Endspiele der Copa Libertadores zwischen den Boca Juniors und River Plate im Jahr 2018 waren schon vor dem ersten Anstoß historisch. Erstmals trafen beide Klubs im Finale des südamerikanischen Pendants zur Champions League aufeinander. Buenos Aires gegen Buenos Aires – ein Duell, welches das ganze Land, den gesamten Kontinent und schließlich sogar Spanien in Atem hielt. Denn das Rückspiel wurde nach einem Angriff von River-Fans auf den Mannschaftsbus der Boca Juniors erst abgesagt und dann nach Madrid verlegt, wo sich River Plate schließlich – vier Wochen nach dem 2:2 im ersten Aufeinandertreffen – durch das 3:1 nach Verlängerung zum Sieger kürte. Exequiel Palacios stand in beiden Partien in der Startelf und feierte mit River Plate den „emotionalsten Triumph“ seiner bisherigen Laufbahn.

Im Werkself-Magazin hat der Bayer 04-Profi zurückgeblickt auf das Duell, dessen Hinspiel am 11.11. ausgetragen wurde.

 

crop_palacios.jpg

Die Bombonera bebt. 50.000 Zuschauer verwandeln die legendäre „Pralinenschachtel“ der Boca Juniors am 11. November 2018 in eine pulsierende, rauchende Festung in Blau und Gelb. Das gesamte Stadion ist in die Vereinsfarben der Gastgeber gehüllt, aus Sicherheitsgründen darf kein einziger Fan von River Plate dem Spektakel offiziell beiwohnen, für die Spieler des Stadtrivalen soll der Gang auf den Rasen den Eintritt in die blau-gelbe Hölle bedeuten. Exequiel Palacios ist einer von ihnen. Im Alter von gerade einmal 20 Jahren ist er von Trainer Marcelo Gallardo einer der Auserkorenen, im größten Spiel der argentinischen Vereinsfußballhistorie dabei zu sein. Eine Auszeichnung – und doch auch eine spezielle Mutprobe.

Diese Leidenschaft zu spüren, auch wenn sie gegen einen gerichtet ist, ist ein unglaubliches Gefühl.

Geballter Hass, überbordende Emotionen und völlige Einsamkeit in der sagenhaft steilen Arena sind die Zutaten eines Erlebnisses, das Palacios erwartet – und das sich für immer in die Erinnerungen des Bayer 04-Profis einbrennen sollte. „Spiele zwischen Boca und River haben eine Dynamik, die man niemandem erklären kann, der es nicht erlebt hat. Es geht um viel mehr als Fußball, das spürt man in jeder Sekunde. Die Tribünen haben gewackelt, das Stadion ist explodiert vor Anspannung, wir haben die Gesänge der Fans im Inneren gehört. Klar waren wir nervös. Aber wir waren froh, dass es endlich losging. Und wir waren bereit, gegen Boca und seine Fans zu bestehen“, sagt Palacios vier Jahre später im Herzen der BayArena. Die Erinnerungen des 24-Jährigen sind lebhaft. Als wäre es gestern gewesen, erzählt er von der emotionalen Achterbahnfahrt rund um das Spiel, dessen erste Austragung aufgrund sintflutartiger Regenfälle um 24 Stunden verschoben worden war. „Ein Sturm im Teufelsmodus“ nannte ein TV-Sender die Regenmassen, die vom Himmel fielen. „Wir verfolgten bei uns im Stadion die Ereignisse im Fernsehen und wollten eigentlich gerade losfahren, als das Duell abgesagt wurde. Zum Glück konnten wir gleich am nächsten Tag antreten, die Warterei fühlte sich dennoch an wie eine Ewigkeit“, sagt Palacios. Die ganze Stadt, das ganze Land hatte dem Auftakt zum „Superfinal de América“ entgegengefiebert.

Die beruflichen Fehlzeiten stiegen aufgrund von Angstzuständen und Schlaflosigkeit, Kirchen erfreuten sich ungewohnten Zulaufs: Unabhängig vom argentinischen Papst Franziskus entdeckten tausende Fans ihr Vertrauen in den Allmächtigen. Nun, mit 24 Stunden Verspätung, entlud sich die Anspannung. Vor den TV-Geräten, auf den Tribünen, auf dem Feld. Etwa 40 Prozent der Argentinier sind Fans der „Bosteros“ (Müllsammler) genannten Boca Juniors, rund 30 Prozent sind River-Anhänger und damit „Millionarios“. Familien waren für die Zeit des Finalduells entzweit, beste Freunde wechselten kein Wort miteinander. Die Mischung aus der Vorfreude über den größten Sieg gegen den Erzrivalen und gleichzeitiger Angst vor der größtmöglichen Schmach ließ weite Teile des Landes erstarren. Palacios wusste um all die Folgen. „Seit der Kindheit“ ist er Fan von River, das Trikot in diesem Duell zu tragen, sorgte für einen bis dahin ungekannten Adrenalinschub. „Wenn man in diesem Moment die Leidenschaft des Fußballs nicht spürt, spürt man gar nichts“, sagt er rückblickend.

Wir haben Historisches geleistet und Millionen unserer Fans die schönste Nacht ihres Lebens beschert.

Der Ouvertüre folgte das erhoffte Spektakel. Das Hinspiel war ein dramatischer Auftakt der Finalserie, in dem die Gäste 90 Minuten von der bedrohlichen Kulisse beschimpft und beleidigt wurden. Eine Erfahrung, über die der brasilianische Superstürmer Romario einst sagte: „Ich war der Hölle niemals näher als in der Bombonera“ – und die Palacios genoss. „Diese Leidenschaft zu spüren, auch wenn sie gegen einen gerichtet ist, ist ein unglaubliches Gefühl.“ Am Ende hieß es 2:2, River hatte zweimal einen Rückstand ausgeglichen und war bereit für das Rückspiel im eigenen Stadion – und bereit, den Rivalen im eigenen Wohnzimmer maximal zu demütigen. Doch dazu kam es nicht. Auch das Rückspiel wurde abgesagt. Nicht wegen Regens, sondern wegen der von den River-Fans auf den Boca-Bus geworfenen Steinen. Kurz vor der Ankunft im Estadio Monumental zerbrachen Scheiben, Spieler mussten verletzt behandelt werden, Tränengas wurde eingesetzt. Das Traumfinale wurde zum Albtraum. Palacios bekam von den surrealen Szenen zunächst nichts mit: „Wir haben uns warmgemacht und wussten lange Zeit nichts von den Vorfällen. Das Stadion war voll, es brodelte, meine Eltern waren da – wir wollten spielen und den Titel nach Hause holen. Dann erfuhren wir von den Ereignissen. Das hätte niemals passieren dürfen. Es war richtig, das Spiel abzusagen, aber es tat weh. Wir wären bereit gewesen.“

Es folgte eine schier endlose Odyssee von Schuldzuweisungen, Verhandlungen und Streitigkeiten – mit dem Ergebnis, dass das Rückspiel doch noch ausgetragen wurde. Allerdings nicht in Buenos Aires, nicht mal in Argentinien, sondern im Estadio Santiago Bernabeu von Madrid. Die Copa Libertadores, der „Befreier-Pokal“, wurde im Land der ehemaligen Besatzer entschieden. Ein schmerzhafter Schritt, den viele Argentinier als Schande empfanden. Palacios aber war froh über die Ansetzung. „Wir wollten einfach nur spielen und gewinnen. Viele von uns hatten noch nie in Europa gespielt, dazu im Bernabeu, dieser berühmten Spielstätte. Wir waren siegessicher, sind im gleichen Flieger mit unseren Familien geflogen und haben uns einfach nur gefreut, dass wir endlich antreten konnten, um den Pokal zu gewinnen.“ Vier Wochen nach dem 2:2 wurde das Rückspiel angepfiffen.

River hatte nach den Ausschreitungen den Heimvorteil verloren. Räumlich und auch stimmungstechnisch, denn in Madrid durften Fans beider Klubs ins Stadion pilgern. Ein Szenario, das in Argentinien aufgrund der Gefahr von Ausschreitungen schon seit Jahren verboten ist, die Stimmung aber nochmals aufpeitschte. Knapp 63.000 Fans sorgten für eine magische argentinische Nacht in Madrid. Und das Spiel hielt mit dem Spektakel auf den Rängen erneut mit. „Wir haben medial vorher nicht viel geredet – aber wir haben gespürt, dass wir die bessere Mannschaft sind, wir waren bereit für das Bernabeu“, sagt Palacios und lächelt. Denn das Gespür der River-Spieler sollte sich bewahrheiten, wenn auch mit fast folgerichtiger Verzögerung: Boca ging in Führung (44.), River schaffte auch dank eines Traumpasses von Palacios den Ausgleich (68.). Es ging – natürlich – in die Verlängerung, in der Boca ab der 92. Minute in Unterzahl spielte. Eine Änderung der Kräfteverhältnisse, der das 2:1 durch Juan Fernando Quintero folgte (109.). Vier Wochen und 199 Minuten Spielzeit nach dem ersten Anstoß war River durch ein „fabelhaftes Traumtor“ erstmals in Führung gegangen. Doch der emotionale Schlussakt sollte noch folgen. 

crop_pala.jpg

Palacios, damals bereits ausgewechselt, hat die Bilder noch genau vor Augen. Er hätte sie sich „nicht schöner ausmalen können“, wie er breit lächelnd erzählt: „Es ist der erste Moment, an den ich immer wieder zurückdenke, wenn ich an die beiden Spiele denke. Es lief die 122. Minute. Boca hatte alles nach vorn geworfen, nochmal den Pfosten getroffen und nun die wohl letzte Ecke. Wir wehrten den Ball ab, eroberten ihn an unserem Strafraum und Pity Martinez lief 70 Meter auf das leere Tor zu. Wir wussten: Das ist der Sieg, alle Spieler auf der Bank vergaßen ihre Schmerzen, wir sprinteten an der Seitenlinie neben Pity her, um zusammen das Tor, den Sieg, den Eintrag in die Geschichtsbücher zu feiern. Er schob den Ball aus elf Metern ein und löste so einen Jubel aus, den ich nie mehr vergessen werde. In diesem Moment wussten wir: Wir haben Historisches geleistet und Millionen unserer Fans die schönste Nacht ihres Lebens beschert.“