Ein Lea­der mit vie­len Facet­ten

Als er im Juli 2015 nach Leverkusen kam, war Jonathan Tah 19 Jahre alt. Ein junger Kerl noch, der aber schon einiges an Erfahrung nach Leverkusen mitbrachte. Beim Hamburger SV hatte der Innenverteidiger bereits 16 Bundesligaspiele absolviert, für Fortuna Düsseldorf 23-mal in der 2. Bundesliga seinen Mann gestanden. Unterm Bayer-Kreuz sollte dann ein neues, ganz besonderes Kapitel beginnen. Der 1,95-Meter-Hüne galt als eines der größten deutschen Abwehrtalente, hatte von der U16 an auch in den DFB-Junioren-Nationalmannschaften gespielt. Als Bayer 04 2015 bei ihm anfragte, musste Tah nicht lange überlegen. „Ich weiß noch, wie ich damals im Frühjahr 2015 das Achtelfinale von Bayer 04 gegen Atletico Madrid in der Champions League geguckt habe“, erinnerte sich der gebürtige Hamburger in einem Interview mit dem Werkself-Magazin. „Da habe ich gestaunt und gedacht: ‚Was ist das bitte für ein geiler Verein?‘ Mich hat beeindruckt, wie ambitioniert alles wirkte.“ Und weil auch er schon immer hoch ambitioniert war, passte die Verbindung Tah – Leverkusen auf Anhieb.

Roger Schmidt, sein erster Trainer bei Bayer 04, setzte von Beginn an auf den jungen Innenverteidiger. Auch, weil auf dieser Position Kapitän Ömer Toprak damals viele Wochen lang verletzt passen musste. „Dass Jona gleich so viel spielen würde, war so nicht geplant“, gab Schmidt später einmal zu verstehen. Sein Pflichtspieldebüt für die Werkself gab Tah am 8. August in der ersten Runde des DFB-Pokals bei den Sportfreunden Lotte. Beim 3:0-Sieg gegen den Regionalligisten spielte der Neuzugang in der Viererkette an der Seite von Kyriakos Papadopoulos, Wendell und Roberto Hilbert über die vollen 90 Minuten. Bernd Leno hielt das Leverkusener Tor sauber. Stefan Kießling, Lars Bender und Hakan Calhanoglu, mit dem Tah schon beim HSV zusammengespielt hatte, erzielten die Tore für Schwarz-Rot.

So fühlt sich also Champions League an, das will ich immer habenJonathan Tah über sein Debüt in der Königsklasse

Eine Woche später stand Tah auch beim Bundesliga-Auftakt gegen die TSG Hoffenheim (2:1) in der Startelf. Ebenso wie drei Tage darauf am 18. August im Champions-League-Qualifikationsspiel bei Lazio Rom. Dort verlor Bayer 04 zwar 0:1, doch dank eines 3:0-Sieges im Rückspiel erfüllte sich für die neue Nummer 4 der Werkself auch gleich der Traum von der Teilnahme an der Königsklasse. Und hier gab’s in der Gruppenphase ein Kräftemessen mit Topklubs wie dem FC Barcelona und der AS Rom. Vor allem das 4:4 gegen die Roma ist Jonathan Tah in bester Erinnerung geblieben: „Ein wirklich verrücktes Spiel, in dem es richtig zur Sache ging. Ich fand es sehr emotional und dachte mir damals als 19-Jähriger: ‚So fühlt sich also Champions League an, das will ich immer haben.‘ Bei AS Rom spielten damals Mo Salah und Gervinho im Angriff, später noch Edin Dzeko. In der Innenverteidigung standen Rüdiger und Manolas, das waren absolute Topspieler. Und wir konnten es mit ihnen aufnehmen.“

Erfolgreicher Start in bewegten Zeiten

Gleich das erste halbe Jahr in Leverkusen hatte es in sich für Jonathan Tah. Bundesliga, Champions League, DFB-Pokal – er stand immer in der Startelf und spielte stets über 90 Minuten. Im September wurde er vom Deutschen Fußball-Bund mit der Fritz-Walter-Medaille in Gold in der Altersklasse U19 ausgezeichnet. Viel erfolgreicher hätte der Start für den ruhigen jungen Mann aus Norddeutschland im Rheinland nicht sein können.

Bayer 04

Abseits des Sports war 2015 ein Jahr voller Krisen und Katastrophen. Die Terroranschläge in Paris auf „Charlie Hebdo“ im Januar und später im November an mehreren Orten der französischen Hauptstadt – unter anderem im Umfeld des Stade de France während des Länderspiels zwischen Frankreich und Deutschland – erschütterten die Welt. Ebenso wie der vorsätzlich herbeigeführte Absturz eines Airbus 320 der Germanwings in den französischen Seealpen oder das Erdbeben in Nepal, bei dem mehrere tausend Menschen ums Leben kamen. Auch die Flüchtlingskrise bewegte Europa, die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte im August ihren denkwürdigen Satz: „Wir schaffen das“. Es sind Geschehnisse und Themen, die auch einen reflektierten Menschen wie Jonathan Tah sehr beschäftigten. Der Sohn einer deutschen Mutter und eines ivorischen Vaters engagiert sich seit vielen Jahren sozial und gesellschaftspolitisch. Ob für krebskranke Kinder als Botschafter der DFB-Stiftung Egidius Braun oder für eine weltweit bessere Trinkwasserversorgung mit der Hilfsorganisation World Vision.

Sozial engagiert

Haltung zeigen, das ist Jonathan Tah auch abseits des Platzes immer wichtig. Gerade wenn es um Toleranz, faires Miteinander, gegenseitigen Respekt geht. Themen, die er auch auf seinen Social-Media-Kanälen immer wieder anspricht. „Engagierter, ambitionierter und aufgeschlossener Mensch, strebt nach der besten Version von sich selbst“, schreibt Tah über sich auf seinem Instagram-Account, auf dem er inzwischen über 300.000 Follower hat. Er nutzt die eigene Reichweite, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Oder um Dinge zu thematisieren, die ihm wichtig sind, wie etwa das Kindertumorzentrum in Heidelberg, dessen Pate er im Rahmen der DFB-Stiftung ist. Tah hat ein großes Herz – und schaut gerne über den eigenen Tellerrand. Ab und zu müsse er raus aus der Fußball-Blase, sagt er selbst. „Das sensibilisiert mich so wieder für die Dinge, die wirklich wichtig sind im Leben.“

Zurück zum Fußballer Jonathan Tah: Für Bayer 04 machte er in seiner ersten Saison 45 Pflichtspiele, wurde mit dem Klub Dritter in der Bundesliga, verpasste verletzungsbedingt nur fünf Spiele. Und weil er konstant hervorragende Leistungen zeigte, wurde auch der Bundestrainer schnell auf ihn aufmerksam. Tah gab am 26. März 2016 unter Joachim Löw sein Länderspiel-Debüt für die deutsche Nationalmannschaft. Beim 2:3 gegen England in Berlin spielte der damals 20-Jährige im DFB-Team noch zusammen mit Lukas Podolski, Mesut Özil und Sami Khedira. Zu den großen Turnieren wurde er zunächst nicht eingeladen. Bei den Europameisterschaften 2016 und 2020 sowie bei den Weltmeisterschaften 2018 und 2022 fehlte der Name Tah im deutschen Aufgebot. Der Weg zum Stammspieler im DFB-Team war weitaus länger als der in Leverkusen. Erst seit September 2023 ist Tah eine feste Größe in der Nationalmannschaft. Bei der EM im vergangenen Jahr in Deutschland zählte der Innenverteidiger zu den Leistungsträgern im Team von Trainer Julian Nagelsmann. Auch in der aktuellen UEFA Nations League besetzt Tah das Abwehrzentrum. Den bislang 35 Länderspielen dürften noch viele weitere folgen.

Deutschland

Der Fels in der Brandung

Unterm Bayer-Kreuz machte sich der zweikampf- und spielstarke Innenverteidiger mit der imposanten Statur schnell unverzichtbar. Ende Januar 2017 erzielte er sein erstes Tor in seinem 60. Bundesliga-Spiel – ein Kopfballtreffer aus fünf Metern nach einem Eckball von Hakan Calhanoglu. Trotz der 1:0-Führung verlor Bayer 04 das Heimspiel gegen Borussia Mönchengladbach am Ende 2:3. Wenige Tage später zog sich Tah einen Muskelfaserriss zu und fiel zweieinhalb Monate aus – seine einzige längere Verletzungspause in seinen zehn Jahren für Bayer 04. Und irgendwie passte es zu dieser unglücklichen Saison 2016/17, dass sich der Klub am Ende als Zwölfter zum ersten Mal seit sieben Jahren nicht für einen internationalen Wettbewerb qualifizierte.

Ansonsten aber fiel Jonathan Tah selten aus. Der Modellathlet stand für Zuverlässigkeit und Konstanz, hatte Übersicht und Spiel-Intelligenz, strahlte Ruhe und Sicherheit aus. Der hünenhafte Abräumer war der Fels in der Brandung und dennoch extrem beweglich und schnell. Weil er seinen Körper gut einzusetzen wusste, spielte er selten foul, war auf dem Platz ein überaus fairer Sportler. Er kam in zehn Saisons insgesamt auf nur 48 Gelbe Karten, im Schnitt also weniger als fünf pro Saison. Zweimal wurde er wegen einer Notbremse vom Platz gestellt und jeweils für zwei Spiele gesperrt.

Ich habe gespürt, dass sich etwas verändert, vor allem auch in der AnspruchshaltungTah über den Grund für seine Vertragsverlängerung im Jahr 2021

Sieben Trainer in zehn Jahren

In Leverkusen wuchs Tah an der Seite von Klub-Legenden wie Stefan Kießling und Lars Bender immer stärker in die Rolle eines Führungsspielers. Und übernahm als Mitglied des Mannschaftsrates immer mehr Verantwortung auf und neben dem Platz. Er las Bücher über das Thema Leadership, besuchte Seminare, in denen es um Kommunikation geht. Sein Wort hatte Gewicht im Team. Und auch bei den Trainern. Sieben Coaches erlebte Jonathan Tah in Leverkusen. Auf Roger Schmidt folgten Tayfun Korkut, Heiko Herrlich, Peter Bosz, Hannes Wolf, Gerardo Seoane und schließlich Xabi Alonso. Unter letzterem wurde auch Tah noch besser. Für ihn war die Saison 2023/24 mit dem Doublesieg und dem Einzug ins Finale der UEFA Europa League der Höhepunkt einer Entwicklung, die er vielleicht nicht unbedingt so hatte kommen sehen. Aber Tah hatte sie für möglich gehalten, als er 2021 seinen Vertrag beim Werksklub gleich um vier Jahre bis 2025 verlängerete. „Ich habe gespürt, dass sich was tut, dass sich etwas verändert, vor allem auch in der Anspruchshaltung, also in der Frage: Was erwarten wir von uns als Mannschaft“, so begründete er vor vier Jahren die Fortsetzung seines Leverkusener Weges. Er sei kein Freund davon, Limits zu setzen, sich selbst zu begrenzen. „Um dann vielleicht auch zu früh zufrieden zu sein, zu glauben, bereits das Optimum erreicht zu haben. Deswegen: No limits!“

Bayer 04

Tah selbst war 2023/24 ein ganz wichtiger Baustein des größten Erfolges der Klubgeschichte. In den 53 Pflichtspielen dieser einzigartigen Saison kam er in 48 Partien zum Einsatz. Meist von Beginn an, meist über 90 Minuten. Einige Male führte er die Mannschaft als Kapitän aufs Feld. Sechsmal traf er für die Werkself ins Netz. Ein unvergessenes Highlight: Sein Kopfballtreffer in der 90. Minute zum 3:2 gegen den VfB Stuttgart brachte die BayArena zum Beben und Schwarz-Rot ins DFB-Pokal-Halbfinale. Schade, dass am 1. April dieses Jahres sein Tor beim DSC Arminia Bielefeld zur zwischenzeitlichen 1:0-Führung nicht reichte, um 2025 erneut ins DFB-Pokalfinale einzuziehen. Berlin hätte für Tah der krönende Abschluss seiner zehn Jahre mit dem Kreuz auf der Brust werden können.

Als Legende in bester Gesellschaft

Sei’s drum: Tah hat als Profi Großes erreicht mit Bayer 04. Hat viel geleistet und immer alles gegeben für Schwarz-Rot. Hat sich längst in die Herzen der Fans gespielt und seinen Platz unter den Klub-Legenden sicher. Mit nunmehr 291 Bundesligaspielen für Bayer 04 ist der 29-Jährige in dieser Saison klubintern an Bernd Schneider (263), Gonzalo Castro (286) und auch am heutigen Geschäftsführer Sport Simon Rolfes (288) vorbeigezogen und nimmt jetzt Platz 6 in der Rangliste der Spieler mit den meisten Bundesligaspielen für die Werkself ein. Vor ihm liegen nur Thomas Hörster (332), Carsten Ramelow (333), Stefan Kießling (344), Ulf Kirsten (350) und Rüdiger Vollborn (401).

Insgesamt hat Jonathan Tah 402 Pflichtspiele für die Werkself bestritten, erzielte dabei 17 Tore und bereitete 13 Treffer vor. Seine Leistungen sprechen für sich. Sein zukünftiger Klub darf sich aber nicht nur auf einen fantastischen Fußballer, sondern auch auf einen engagierten und wunderbaren Menschen freuen.

Alles Gute, Jona!

Bayer 04