Zehn Jahre lang trug er das Bayer 04-Trikot, in Leverkusen gab der gebürtige Schleswig-Holsteiner mit dem ungewöhnlichen Namen 2003 sein Profi-Debüt. Im Sommer 2019 hat Jan-Ingwer Callsen-Bracker seine Spieler-Karriere beim FC Augsburg beendet. Dort übernahm der 36-Jährige anschließend einen Posten im Aufsichtsrat. Mindestens ebenso spannend aber dürfte seine Tätigkeit innerhalb der DFB-Akademie sein…
Als er Anfang Januar im Trainingslager der Werkself in La Manga vorbeischaute, gab’s ein großes Hallo und viele Umarmungen: Jan-Ingwer Callsen-Bracker wurde nicht nur von Geschäftsführer Sport Rudi Völler und Sportdirektor Simon Rolfes aufs Herzlichste begrüßt. Auch viele alte Bekannte aus dem Staff wie Dr. Karl-Heinrich Dittmar, der Direktor Medizin, Chef-Physiotherapeut Sven Elsinger oder Teammanager Hans-Peter Lehnhoff freuten sich über den Überraschungsgast, der quasi nebenan mit den deutschen Nationalmannschaften U16 und U17 ein Trainingscamp bezogen hatte. Seit dem 1. Oktober 2019 kümmert sich Callsen-Bracker um den neuen Bereich „Neurozentriertes Training“ innerhalb der Abteilung Innovation und Entwicklung der DFB-Akademie, den er nun bei den U-Mannschaften des DFB aufbauen soll. Dabei entwickelt er auch Übungen, die die DFB-Trainer in ihre Arbeit mit den Teams integrieren können. Der Praxisbezug steht ganz weit oben. Weil der 35-Jährige einst seine Profi-Karriere in Leverkusen begonnen hatte, stattete er seinem Ausbildungsverein natürlich sehr gerne einen Besuch ab. „Obwohl ich Bayer 04 ja schon 2008 verlassen habe, ist der Kontakt zum Klub nie abgebrochen“, sagt Callsen-Bracker. Vor wenigen Jahren noch absolvierte er nach einer schweren Verletzung einen Teil seiner Reha in der Werkstatt der BayArena. Dazu später mehr.
Erst im Sommer 2019 hat Jan-Ingwer Callsen-Bracker seine aktive Laufbahn beendet. Leverkusen, Mönchengladbach, Augsburg und ein kurzer Abstecher nach Kaiserslautern - das waren die Stationen seiner 16-jährigen Profikarriere. Neben seinem Job beim DFB ist er seit Dezember 2019 auch Mitglied im Aufsichtsrat des FC Augsburg, bei dem er die letzten achteinhalb Jahre als Spieler unter Vertrag gestanden hatte. Er dürfte wohl eines der jüngsten Aufsichtsratsmitglieder eines Bundesligisten sein. Der Mann ist gefragt. „Ich freue mich über das Vertrauen und die Aufgaben, die mir übertragen wurden“, sagt Callsen-Bracker. „Es ist großartig, dass ich meine beiden Leidenschaften Fußball und Neurozentriertes Training auf diese Weise miteinander verbinden kann.“
Seine Geschichte als Fußballer begann beim TSV Bollingstedt, einem Dorfverein in der Nähe von Schleswig. Als seine Eltern 1995 mit ihm aus beruflichen Gründen nach Bonn zogen, agierte Jan-Ingwer beim SV Beuel nicht mehr als Stürmer, sondern im offensiven Mittelfeld. In Beuel wurde er schließlich von Leverkusens Nachwuchsscout Peter Kunze gesichtet und wechselte 1998 in die U14 von Bayer 04. Dort rutschte er positionstechnisch noch weiter nach hinten durch – in der U16 und U17 erst ins zentrale defensive Mittelfeld, in der U19 und in der U23 schließlich auf die Innenverteidiger-Position.
Schon als 17-Jähriger durfte er 2002 bei den Profis mittrainieren. „Michael Reschke, der damalige Nachwuchsleiter, fragte mich eines Morgens, ob ich mir das zutrauen würde: ein Training bei den Profis“, erinnert sich Jan-Ingwer und lacht: „Ich musste schlucken und fragte zurück, wie das funktionieren solle. Bayer 04 war auf dem Weg zum legendären Triple-Vize. Da standen ja absolute Superstars in der Mannschaft. Lucio, Jens Nowotny, Michael Ballack, Bernd Schneider und so weiter. Aber ich sagte dann einen Tag später doch zu und weiß noch, wie mich Klaus Toppmöller vor meinem ersten Training in den Arm nahm und zu mir sagte: ‚Jan, du brauchst nicht aufgeregt zu sein, die kochen hier alle auch nur mit Wasser.‘“
Offensichtlich hinterließ er einen guten Eindruck, durfte danach immer wieder mittrainieren und war damit der erste Spieler aus dem im Jahr 2000 gegründeten Jugendleistungszentrum Kurtekotten, der den Sprung in den Profibereich geschafft hatte. Ein knappes Jahr später schrieb Reiner Calmund dem 18-jährigen Jan-Ingwer eine Entschuldigung fürs Gymnasium. Der damalige Geschäftsführer ließ den Abiturienten mit den Leistungskursen Mathematik und Physik am 18. Februar 2003 vom Unterricht befreien, damit der sich auf seinen Einsatz im Kader des Champions-League-Spiels gegen Newcastle United am Abend vorbereiten konnte.
Die sportliche Lage war prekär: In der Bundesliga kämpfte Bayer 04 nur ein Jahr nach der besten Saison der Vereinsgeschichte gegen den Abstieg. Klaus Toppmöller musste seinen Trainerstuhl räumen, der bisherige U23-Coach Thomas Hörster übernahm. In der Champions League hatte die Werkself zwar die Zwischenrunde erreicht, lag hier aber nach zwei Niederlagen gegen den FC Barcelona und Inter Mailand ziemlich aussichtslos im Rennen. „Und weil alle Kräfte für den Klassenerhalt in der Liga gebündelt werden sollten, kam ich unverhofft zu meinem Profi-Debüt in einem Champions-League-Spiel“, erinnert sich Callsen-Bracker. Hörster, für den die Partie gegen Newcastle ebenfalls seine Premiere auf der Trainerbank bedeutete, wechselte seinen Lieblingsschüler aus der U23 in der 72. Minute beim Stand von 1:3, der auch der Endstand blieb, für den brasilianischen Innenverteidiger Cris ein. Für Jan-Ingwer blieb es zunächst der einzige Profi-Einsatz. Die Werkself wurde mit null Punkten Gruppenletzter in der Zwischenrunde, rettete sich aber - inzwischen hatte Klaus Augenthaler Thomas Hörster als Cheftrainer abgelöst – vor dem Abstieg.
Erst im April 2004 durfte Jan-Ingwer beim 6:0-Sieg gegen Kaiserslautern auch in der Bundesliga zum ersten Mal ran. Gegen die Lauterer gelang ihm knapp ein Jahr später auch sein erstes (Kopfball-)Tor. „Von Jens Nowotny, Lucio und Juan konnte ich jeden Tag viel lernen und sie waren natürlich damals auch Vorbilder auf der Innenverteidiger-Position. Sie haben mir in meiner Anfangszeit sehr geholfen“, sagt Callsen-Bracker. Aber so richtig in Fahrt kommen wollte die Profi-Karriere des Innenverteidigers noch nicht. Immer wieder warfen ihn Verletzungen zurück. „Ich hatte mir zu Beginn meiner Laufbahn durch ein Foul im Training einen Syndesmosebandriss zugezogen, aus dem viele Folge-Verletzungen und immer wiederkehrende muskuläre Probleme entstanden sind. Deshalb fing ich an mich teilweise zu fragen: ‚Ist dein Körper überhaupt für die extremen Belastungen des Leistungssports gemacht?‘ Aber ich kämpfte mich trotz der Probleme immer wieder zurück und machte meine Spiele.“
Seine beste Zeit unterm Bayer-Kreuz hatte der Defensiv-Spezialist unter Trainer Michael Skibbe von Ende 2006 bis 2008. Er spielte – meist an der Seite von Juan – oft über die volle Distanz, sein bester Kumpel und Zimmergenosse war Torhüter René Adler. „Unvergessen sind aber auch die Doppelkopf-Stunden im Hotel mit Simon Rolfes, Bernd Schneider und Stefan Kießling“, sagt er mit einem Schmunzeln. Bei den Fans hatte der schlaksige junge Mann aus dem eigenen Nachwuchs einen Stein im Brett. Sie zelebrierten seinen außergewöhnlichen Namen mit Gesängen nach der Melodie des 80er-Jahre-Disco-Hits Vamos a la playa der italienischen Band Righeira: „Jan-Ingwer Callsen-Bracker oh ohooho“.
Ja, sein doppelter Doppelname sorgte überhaupt immer wieder für Gesprächsstoff. Die meisten sprachen und sprechen ihn bis heute falsch aus: Bracker statt Braaaacker mit langem A, wie es richtig wäre. „In Bracker ist ein Dehnungs-C wie in Mecklenburg-Vorpommern“, erklärt Jan-Ingwer und holt noch etwas weiter aus: „Mein Großvater war ein geborener Bracker. Oben in Schleswig-Holstein gibt es den Callsen-Hof. Der Bauer Hans Callsen hat im Zweiten Weltkrieg seinen Sohn verloren, und damit der Hof nach der Höfe-Ordnung übernommen werden konnte, hat er meinen Großvater adoptiert. Der hieß erst Bracker-Callsen, das klang aber nicht so gut. Also drehte man das Ganze um und machte Callsen-Bracker draus.“
Nach zehn Jahren in Leverkusen wechselte der Verteidiger 2008 an den Niederrhein zu Borussia Mönchengladbach, wo ihn allerdings eine langwierige Sehnenentzündung fast die gesamte Saison 2009/10 kostete und er insgesamt in zweieinhalb Jahren nur auf elf Bundesliga-Einsätze kam. Erst mit seinem Wechsel im Januar 2011 zum damaligen Zweitligisten FC Augsburg startete der gebürtige Schleswig-Holsteiner wieder durch. Mit dem FCA stieg er im selben Jahr unter Trainer Jos Luhukay in die Bundesliga auf, wurde hier zum Leistungsträger und Führungsspieler. „Ich konnte in Augsburg Verantwortung übernehmen und mich auch als Persönlichkeit weiterentwickeln“, sagt er. Dass es dort so positiv in allen Belangen laufen sollte, führt Callsen-Bracker auch auf eine Begegnung mit Sportwissenschaftler Lars Lienhard im Jahr 2011 an der Universität Bonn zurück, der dort den neurozentrierten Trainingsansatz verfolgte. „Obwohl auch ich dem Thema zunächst skeptisch gegenüberstand, habe ich sehr schnell gemerkt, dass mir dieses Training hilft.“
Worum genau geht es nun beim neuronalen Ansatz? Jan-Ingwer Callsen-Bracker erklärte dazu kürzlich im Interview mit dfb.de: „Neurozentriertes Training zielt auf das zentrale und periphere Nervensystem ab. Wir verbessern die Bewegungsqualität der Spieler anhand gezielter sensomotorischen Übungen. Dabei handelt sich praktisch um die Weiterentwicklung des klassischen Trainings, indem Gehirn und Nervensystem als zentrale Elemente der Bewegungssteuerung vertiefend ins Training einbezogen werden. Neurozentriertes Training fördert die Leistungsfähigkeit und hilft daher auch bei der Verletzungsprävention sowie der Rehabilitation.“
Callsen-Brackers Interesse wuchs nach und nach, sich im Bereich des Neurozentrierten Trainings weiterzubilden. Er belegte Online- und Präsenzveranstaltungen in Kopenhagen und Phönix (USA) bei Dr. Eric Cobb, dem Pionier auf diesem Gebiet, und machte seine ersten Abschlüsse. „Mir wurde klar, wie das Nervensystem und mein Bewegungsapparat funktionieren und welche positiven Auswirkungen das auf mein Spiel hat.“
Beim FCA absolvierte der fünfmalige deutsche U21-Nationalspieler in fünf Jahren 148 Pflichtspiele und damit mehr als doppelt so viele wie in den siebeneinhalb Jahren zuvor bei Bayer 04 und in Mönchengladbach. Dann kam der 10. Dezember 2015: Im Europa-League-Spiel in Belgrad grätschte ihn Partizan-Spieler Nikola Ninkovic brutalst von den Beinen. Die bittere Diagnose: Wadenbeinbruch, alle Innenbänder im Sprunggelenk durch, Knorpel-Abscherung, Knochenmarködem, Sehnenaufhängung gerissen und ein Nerv durchtrennt. „Das kam einem Totalschaden gleich, der normalerweise das sichere Karriereende bedeutet hätte“, erzählt Jan-Ingwer. „Aber ich hatte sehr gute Ärzte in Augsburg, die mich operierten und außerdem vertraute ich auch auf mein neuronales Vorwissen und wusste, was auf dem Gebiet der neuronalen Plastizität alles möglich ist. Ich sagte mir: ‚Ich will selbst bestimmen, wann Schluss ist‘.“
Und noch etwas trug wesentlich dazu bei, dass der Innenverteidiger nach harten 17 Monaten sein Comeback feiern konnte: Bayer 04 ermöglichte ihm 2016 in Absprache mit der medizinischen Abteilung des FC Augsburg eine dreimonatige Rehabilitation in der Werkstatt der BayArena. „Ich bin Bayer 04 sehr, sehr dankbar dafür, dass sie mir in einer extrem schwierigen Situation geholfen haben und dass ich in der Endphase meiner Reha die tollen Möglichkeiten in der Werkstatt nutzen durfte. Dr. Dittmar, Dr. Burak Yildirim, die Reha-Trainer Carsten Rademacher und Gregor Stumpf und das gesamte Physioteam haben mich dort unterstützt. Das war eine Riesen-Geste von Bayer 04, die ich nicht vergessen werde!“
Als er am 30. April 2017 - gut anderthalb Jahre nach dem Horror-Foul - beim 4:0 gegen den Hamburger SV in der 88. Minute erstmals wieder den Rasen der WWK Arena betrat, wurde er von den 30.000 Zuschauern mit Ovationen gefeiert. Aber natürlich war seine Position längst neu besetzt, seinen Stammplatz beim FCA konnte sich Callsen-Bracker, inzwischen ja auch schon 33, nicht mehr zurückerobern. Nach halbjähriger Ausleihe zum 1. FC Kaiserslautern, für den er noch zwölf Zweitligaspiele bestritt, kehrte er 2018 im Sommer wieder nach Augsburg zurück und kam hier im Januar 2019 noch ein letztes Mal zu einem Kurzeinsatz gegen Fortuna Düsseldorf. Längst hatte er sich aber schon um seine Karriere nach der Karriere gekümmert. Das Angebot der DFB-Akademie, in Frankfurt den Bereich Neuronales Training aufzubauen, kam da wie gerufen. Tobias Haupt, Leiter der DFB-Akademie, sagte zur Verpflichtung von Callsen-Bracker: „Er hat eine beeindruckende Expertise in diesem Bereich aufgebaut, bringt als langjähriger Bundesligaprofi wichtige praktische Erfahrung aus Training und Wettkampf mit und ist daher die ideale Besetzung für den Aufbau dieses neuen Bereichs.“
Der ehemalige Werkself-Profi will nun im Fußball Akzeptanz für das Thema Neurozentriertes Training schaffen und Aufklärung betreiben. Drei- bis viermal pro Woche fährt Jan-Ingwer, der mit Ehefrau Corinna und seinen beiden Kindern in Augsburg lebt, nach Frankfurt in die DFB-Akademie. Dort entwickelt er mit den Trainern und Experten der Akademie konkrete Programme und Trainingsmethoden für die Praxis. „Aber wir arbeiten nicht nur mit Trainern sondern unter anderem mit verschiedenen Universitäten zusammen und begleiten so unsere Arbeit und Projekte wissenschaftlich.“ In der Leichtathletik und im Wintersport sei das Thema schon längst in den Verbänden angekommen. In den USA setze man seit vielen Jahren auf die gezielte Rehabilitation des Nervensystems, zahlreiche Stars aus NHL, NFL und NBA wie LeBron James seien überzeugt von deren Wirksamkeit. „Aber auch viele Fußballer wie Per Mertesacker, Sami Khedira und Serge Gnabry beschäftigen sich bereits seit Jahren mit Neurozentriertem Training.“
In der medizinischen Abteilung von Bayer 04 findet man das Thema interessant. „Wir beschäftigen uns generell gerne mit neuen Ansätzen und stehen auch diesem Bereich offen gegenüber, aber wir haben noch kein abschließendes Urteil dazu“, sagt Dr. Karl-Heinrich Dittmar. Nach der Saison will man sich mit Jan-Ingwer Callsen-Bracker mal wieder zu einem lockeren Gedankenaustausch in der BayArena treffen.
23. Februar 2020