„Calli“ wird 70 - Ein Mann als starke Marke

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Ein Mann feiert runden Geburtstag. So weit, so gut. Dennoch Stopp! Denn es handelt sich nicht um irgendwen. Schon drängt sich die erste Gelegenheit auf, mit Bezug auf sein Äußeres einen naheliegenden Kalauer einzustreuen. Machen wir aber nicht. Erstens, weil das doof ist. Zweitens, weil der Jubilar das in diesem Fall selbst viel besser kann. Denn Reiner Calmund, der am 23. November 70 Jahre alt wird, ist ein wahrer Meister der Selbstironie. Wer auch immer versucht, sich auf seine Kosten lustig zu machen, erntet nur ein müdes Lächeln. 

Wie nähert man sich einem Menschen, der in seinen sieben Lebensjahrzehnten so gut wie nichts ausgelassen hat? Der mehrere Karrieren hingelegt hat und sich als Typ doch immer treu geblieben ist. Der lange einen Stammplatz hatte auf der Achterbahn der Fußball-Emotionen und deren verschärft gesundheitsgefährdenden Stress überlebt hat.

„Calli“ 2018 ist das, was man in seiner Jugend einen Tausendsassa oder auch einen Hans-Dampf-in-allen-Gassen nannte. Er ist in einer Person Kommentator, Kolumnist, Kommunikator, Multiplikator, Blogger, Buch-Autor, TV-Experte, Talker, Netzwerker. Ein bisschen ville für einen Kopf, meinen Sie? Nicht für „Calli“. Er ist längst ein Medien-Profi, hat sich Schritt für Schritt furchtlos reingearbeitet in diese für ihn weitgehend fremde Welt. Er war schon ein Influencer lange bevor dieser Begriff hierzulande im Marketing-Jargon auftauchte.

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Eine illustre Runde: Der sky-Experte Reiner Calmund mit Moderator Sebastian Hellmann (links) sowie Lothar Matthäus, Christoph Metzelder und Britta Hofmann. (Foto: Sky/Getty Images/Joerg Koch)

In seinem ersten Leben war Reiner Calmund ausschließlich ein Mann des Fußballs. Als solcher leitete er rund ein Vierteljahrhundert lang die Geschicke des Bundesligisten Bayer 04 Leverkusen. Mit dessen Aufstieg 1979 in die Premium-Klasse begann auch  sein unaufhaltsamer Aufstieg in die Regiezentrale eines Klubs, der zeitweise zur europäischen Topklasse zählte. Bevor er 2004 abdankte, konnte er, abseits aller sportlichen Lorbeeren, zufrieden auf sein größtes Verdienst verweisen. Er hatte in seiner bei Bedarf auch populistischen Art die in der deutschen Fußball-Folklore tief verankerten Vorurteile gegen einen „Werksverein“ wie Bayer 04 größtenteils abgebaut. „Das Plastik-Image“, so der „Fußball-Bekloppte“ (Selbsteinschätzung), „ist doch weg, das ist vor allem mir zu verdanken.“

70 Jahre, da blickt man ohne Zorn zurück. Mitte der 1970er Jahre holte Willibert Kremer, der Trainer des damaligen Zweitligisten, Calmund zu Bayer 04. Der hatte Betriebswirtschaft studiert, war Übungsleiter der Jugend des Fußballverbandes Mittelrhein, hatte als einer der ersten beim DFB die Lizenz eines Organisationsleiters erworben und gestaltete zeitgleich die Sportseiten einer Lokalausgabe der „Kölnischen Rundschau“.

Fortan stellte der äußerst kommunikative Neuling bei den Eltern begabter Jungkicker auch außerhalb Leverkusens schon mal den Fuß in die Tür, um für seinen Klub zu werben. Ein Mann – ein Wort – ach was, ein Wortschwall. Ein ebenso unkonventionelles wie erfolgreiches Verfahren. Sozusagen eine vorgeschichtliche Form der Talentsichtung. Das umtriebige Duo Calmund/Kremer führte dem Bayer-Talentschuppen so manchen hoffnungsvollen Nachwuchskicker zu, was angesichts der attraktiven Konkurrenz auf der anderen Rheinseite bemerkenswert war.

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Zwei echte Typen: Reiner Calmund 1982 mit dem damaligen Cheftrainer Dettmar Cramer.

Der ehrgeizige Calmund machte sich fortan mit den Feinheiten des Vereinslebens vertraut, gab an Spieltagen den Stadionsprecher und arbeitete im Bayer-Werk für die Personalabteilung in der Abteilung Auslandskooperation. „Diese Entwicklung war für mich wie ein Länderspiel“, erinnert er sich. Das ist Fußballersprache und bedeutet so viel wie heute im Jugend-Jargon: „Läuft für mich . . .“ Die neuen Verhältnisse waren für ihn eine Art Sechser im Lotto.

Als sich die Leverkusener Profifußballer 1979 für die Bundesliga qualifizierten, traf das die handelnden Personen weitgehend unvorbereitet. Nicht so den aufstrebenden Jungdynamiker. Damals gab’s zwar noch keinen Video-Assistenten, keine kalibrierten Linien, keinen vierten Offiziellen, und für einen Sieg bekam man noch zwei Punkte, aber Calmund hatte genau jenes Gespür, das ihn von nun bergauf führte. Er leaste als erstes eine Holztribüne für das überalterte Ulrich-Haberland-Stadion, um dem wachsenden Interesse der Fans wenigstens halbwegs gerecht werden zu können. Genau die richtige Maßnahme zur rechten Zeit. Einwände gegen den hemdsärmeligen Macher blieben auf der Strecke. Calmund: „Ich war anfangs eigentlich nicht der Wunschkandidat der Firmenleitung, die hätten lieber einen gelackten Krawatten-Mann gehabt.“

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Da ist das Ding: Reiner Calmund feiert 1993 mit Franco Foda (links) und Kurt Vossen den DFB-Pokalgewinn.

Von Gemüt und Geblüt her ist „Calli“ ein Rheinländer. Er ist geboren in Brühl und aufgewachsen in Frechen. Menschen dieser Region sagt man eine gewisse Grundheiterkeit nach, unter der Devise „Leben und leben lassen“ ein Streben nach Harmonie. Er ist eine Frohnatur mit einer starken Bindung an Menschen, die loyal oder gar, wie namentlich Rudi Völler oder der langjährige Sportbeauftragte der Bayer AG, Jürgen von Einem, in freundschaftlicher Verbundenheit seinen Weg über kurz oder lang mitgegangen sind. So gesehen ist es geradezu eine Absonderlichkeit, dass die immer wieder gesendeten oder gedruckten Bilder, die aus dem weitgehend öffentlich geführten Leben des Reiner C. haften geblieben sind, nicht gerade fröhlicher Natur sind.

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Geht euch einen ballern, das werde ich heute auch machen

Wir sehen den Bayer 04-Mann mit dem Mikrofon in der Hand. Er wischt sich über die Augen, die Tränen rollen übers Gesicht. Die Haarsträhnen sträuben sich wie der ganze Kerl gegen den Frust des Moments. Finale der Saison 2001/02: Calmunds Mannschaft hatte die Hand an der Meisterschale, dann gleitet ihr der Titel aus der Hand. Vizemeister. Es folgen Berlin und Glasgow, die Finalniederlagen im DFB-Pokal und in der Champions League. „Geht euch einen ballern“, rät der Manager den enttäuschten Fans, „das werde ich heute auch machen“. Er weiß nur zu gut, dass der Kater am nächsten Morgen fürchterlich sein wird.

Ein Jahr später sehen wir Reiner C. auf der Tribüne der BayArena. Auf dem Rasen wogt ein geradezu schicksalhaftes Match hin und her. Seine Jungs sind in ziemlicher Abstiegsgefahr. Er malt sich aus, was ein solcher Super-GAU für den Klub bedeuten wird. Der mächtige Mann kann kaum hinsehen. Schnappatmung. Die Lippen beben unkontrolliert und spiegeln die innere Unruhe wider. Hinter ihm blickt sein Hausarzt, Dr. Karl-Heinrich Dittmar, der aktuelle Leiter der medizinischen Abteilung beim Werksklub, besorgt auf seinen Patienten. Nach dem Abpfiff das allgemeine Aufatmen. „Et hätt noch immer jot jegange“, sagt man hierzulande. Für Calmund, für die Mannschaft und für ihre Anhänger.

Die dritte Szene führt uns in den Presseraum der BayArena, tief in den Katakomben des schmucken Stadions. Es gilt, Abschied zu nehmen von dem Workaholic Calmund. Im Juni 2004 ist es ihm zu viel geworden. Sein Weg ist beendet. Der Blick ist leer, die Stimme heiser. Die Energie-Reserven sind aufgebraucht. „Ich bin platt“, sagt Calmund ohne jeden Anflug von Dramatik, und einen Moment lang scheint es so, als würde sein Kopf auf die Tischplatte sinken. Dann schlurft er mit schweren Schritten aus dem Raum, wo er so oft aufgetrumpft hat. Der Mann, so scheint’s, hat endgültig fertig. Da kennt man ihn aber schlecht. . . .

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Abstiegsgespenst verjagt: Reiner Calmund umarmt Interimstrainer Peter Hermann nach dem 1:1 gegen Kaiserslautern 1996. Damit war der Klassenerhalt gesichert.

Wer diese drei Momentaufnahmen aufruft, könnte auf die Idee kommen, Reiner Calmund sei ein Verlierer. Falsch. Ein gründlicher Irrtum, denn von Natur aus ist er ein optimistischer Zeitgenosse, in dessen vergnüglicher Gesellschaft es viel zu lachen gibt. Andererseits, die immer wieder auftretende Ambivalenz zwischen Tränen und Triumphen spiegelt auch den unruhigen Herzschlag eines Klubs wider, dessen Erscheinungsbild von einer gewissen Flatterhaftigkeit seines Aushängeschildes geprägt wird. Der unverständliche Wechsel zwischen großartigen und desaströsen Vorstellungen hält bis in die aktuelle Saison an. Viele Internisten haben sich mit unterschiedlichen Therapien um Besserung bemüht. Kluge Artikel sind über das Phänomen geschrieben worden. Es ist ihm offensichtlich nicht dauerhaft beizukommen. Auch der Spielerversteher und Hobby-Psychologe Calmund hat es nicht geschafft.

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Bitterer Moment: Nach der verspielten Meisterschaft 2002 kann Reiner Calmund seine Tränen nicht verbergen.

Mit 70 ist „Calli“ ein bisschen weise geworden. Sein Rat ist nach wie vor gefragt in der Branche. Sein großer Erfahrungsschatz ist Gold wert. Wo er früher auch vor der Kamera kaum einzufangen war und wie ein Buch redete, sind seine samstäglichen Analysen im Experten-Team bei sky nun kompetent und auf den Punkt. Er hat seine blumige Sprache mit den entsprechenden Sprüchen beibehalten, die auch in der Nordkurve prima ankommt.

Wo „Calli“ draufsteht, ist auch „Calli“ drin. Aber er nimmt nicht mehr alles so bierernst. In einem Punkt freilich versteht er keinen Spaß. Reiner Calmund ist auch oder gerade mit 70 ein Mann mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Für die Unterstützung von Schwachen und namentlich von Kindern ist ihm kein Weg zu weit und kein Appell laut genug. Da setzt er seinen guten Namen bedingungslos und nachhaltig ein.

Vor kurzem ist Reiner C. scheinbar seinem eigenen Ebenbild begegnet. Der Schauspieler und Komödiant Michael Kessler, der sich dank verblüffend perfekter Maske für das ZDF in Prominente zu verwandeln weiß und diese dann sozusagen mit sich selbst konfrontiert, trat als Reiner Calmund dem echten Reiner C. entgegen. Letzterem blieb zunächst die Spucke weg, was bekanntlich einiges bedeutet. Gesendet wird der Beitrag im kommenden Sommer.

Zwei „Callis“? Ein schöner Scherz. Aber lasst gut sein, Leute! Das geht gar nicht. Es gibt nur einen Reiner Calmund. Der ist weiterhin fest im Fußball verankert. Längst ist er aber zu einer eigenständigen Marke geworden. Nicht in dem Sinne wie man landläufig sagt: „Der ist aber ’ne Marke“. Eher als eine Art Qualitätssiegel gegen jede Form von Langeweile. Bei Bedarf sachlich-fachlich, vor allem aber kurzweilig.

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