Was heute kaum noch vorstellbar ist, war bis 1967 selbstverständlich: Alle elf Akteure einer Mannschaft mussten von der ersten bis zur letzten Minute durchspielen. Erst zur neuen Saison wurde das Regelwerk geändert und ein Wechsel pro Spiel erlaubt. So nahm am 27. August 1967 der damalige Bayer 04-Trainer Theo Kirchberg erstmals in der Klubgeschichte eine Auswechslung vor. Wir erinnern an eine kleine Revolution vor genau 55 Jahren.
Warum er damals in der 67. Minute beim Stand von 1:1 gegen Preußen Münster ausgewechselt worden ist, daran kann sich Fredi Hennecken heute nicht mehr erinnern. Ob er angeschlagen war oder erschöpft, nicht seinen besten Tag hatte oder aus taktischen Gründen runter musste? „Keine Ahnung, ich weiß nur, dass Peter Rübenach für mich reinkam. Und der war, wie man es heute nennt, ein perfekter Joker“, sagt Hennecken.
Erstmals überhaupt nutzte ein Bayer 04-Trainer vor 55 Jahren die neue Möglichkeit, einen Spieler während der Partie durch einen anderen ersetzen zu können. Das Regelwerk war zur Saison 1967/68 – erst vier Jahre nach Gründung der Bundesliga – dahingehend vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) geändert worden. Bis dahin waren Einwechslungen nicht erlaubt. Wer sich während eines Spiels verletzte, musste auf die Zähne beißen und durchhalten.
Rübenach für Hennecken also: Diesen Wechsel sollte Trainer Theo Kirchberg in der Saison 67/68 – auch andersherum – noch einige Male vornehmen. Und bei einem Kader von nur 15 Spielern war die Chance, zumindest einmal pro Begegnung eine frische Kraft bringen zu können, schon ein Fortschritt. Ein Fortschritt, der sich auszahlen sollte für Bayer 04. Zwar traf Rübenach, der im August 2020 im Alter von 72 Jahren verstorben ist, nicht gleich bei seinem ersten Joker-Einsatz in Münster – das Spiel endete 1:1. Aber nur zwei Wochen später, am 10. September 1967, trug er sich erneut in die Vereins-Geschichtsbücher ein. In der Partie beim TSV Marl-Hüls erzielte das damals 19-jährige Stürmertalent nur fünf Minuten nach seiner Einwechslung für Karl-Heinz Brücken den entscheidenden Treffer zum 2:1-Auswärtssieg – das erste Joker-Tor der Bayer 04-Historie. „Peter war einfach immer sofort da, wenn der Trainer ihn brachte. Der brauchte keine lange Anlaufzeit, und er hat ja in dieser Saison auch noch einige wichtige Tore für uns erzielt“, erinnert sich Hennecken. So stach der Joker auch am 30. Spieltag, als Rübenach nach 0:1-Rückstand gegen den VfR Neuss mit einem Doppelschlag für einen 2:1-Sieg sorgte.
Wer weiß, ob Kirchberg mit seinem kleinen Kader ohne Wechselmöglichkeit eine solch überragende Saison hätte spielen können, die mit dem Gewinn der Meisterschaft in der Regionalliga West noch nicht beendet war. In der anschließenden Aufstiegsrunde zur Bundesliga sollte Bayer 04 nur knapp an Kickers Offenbach scheitern. Torschützenkönig in dieser Aufstiegsrunde wurde übrigens Fredi Hennecken mit fünf Treffern in acht Spielen. Der „Eisenfuß“, wie der schussgewaltige Offensivspieler von Kollegen genannt wurde, war zwar mit seinen 1,73 Metern nicht der größte, aber hart im Nehmen. „Dank meiner Robustheit war ich glücklicherweise fast nie verletzt“, sagt der heute 81-Jährige.
Wobei: Was hieß damals schon verletzt? Diagnostische Verfahren wie die Magnetresonanztomographie (MRT) oder die Computertomographie (CT) gab es Ende der 60er-Jahre noch nicht. Geschweige denn Leistungsdiagnostik oder individuelle Trainingssteuerung. Hennecken erinnert sich an Arztbesuche, zu denen ihn Coach Kirchberg persönlich chauffierte. „Ich hatte mal eine Fußverletzung, man sah einen Bluterguss im Knöchel. Das wurde punktiert, der Professor zog mit einer Spritze etwas Blut aus dem Erguss, dann war die Sache erledigt. Der wahre Jakob war das nicht, aber die Medizin war eben damals noch nicht so weit. Zu meiner aktiven Zeit haben sicher viele Spieler mit Muskelfaserrissen oder gar Bänderrissen gespielt, ohne es zu wissen. Bandage drum und weiter ging’s.“
Es konnte einen auch schlimmer erwischen. Günter Haarmann, ein Mannschaftskollege von Hennecken, hatte sich Mitte der 60er-Jahre bei einem Spiel in Oberhausen den Mittelfuß gebrochen. „Weil damals aber eben noch nicht gewechselt werden durfte, musste ich weiterspielen. Da humpelte ich als Verteidiger auf Linksaußen rum, nur damit ein Gegenspieler zumindest ein bisschen auf der Seite beschäftigt war“, erzählt der gebürtige Leverkusener, der zwischen 1958 und 1970 über 500 Spiele mit dem Kreuz auf der Brust absolvierte.
Es waren harte Zeiten für die Spieler. Nicht nur physisch. Denn für Zuschauer und Presse war nicht immer ersichtlich, warum jemand plötzlich seine Leistung nicht mehr brachte. „Ich habe mich oft über schlechte Kritiken in der Zeitung geärgert“, sagt Haarmann. „Was glauben Sie, wie oft ich gespielt habe, obwohl ich angeschlagen war und nicht mehr ordentlich mit rechts schießen konnte. Da bekam man dann in der Öffentlichkeit sein Fett weg, obwohl die gar nicht wissen konnte, was Sache war.“
Manchmal aber lagen die Dinge auch klar auf der Hand. Schon 1966 bei der WM in England mussten Superstar Pelé, eine aufgebrachte Fußball-Nation in Brasilien und weltweit viele Fernsehzuschauer erleben, was es heißt, wenn Mannschaften das Nicht-Wechseln-Dürfen als strategische Waffe nutzen. Alle auf Pelé hieß das Motto der Portugiesen im letzten Vorrundenspiel gegen den amtierenden Weltmeister. „O Rei“, der König, wurde gejagt und getreten. Bis er schließlich nach einem Doppelfoul verletzt vom Platz getragen werden musste und nach langer Behandlungspause nur noch über den Rasen humpeln konnte. Portugal gewann 3:1, Titelverteidiger Brasilien war ausgeschieden.
Auch wenn Spieler von der Qualität eines Pelé nie eins zu eins ersetzt werden können: Zumindest vorsätzliche Quasi-Dezimierungen von Mannschaften sind seit der Regeländerung 1967 so nicht mehr möglich. „Trotzdem ist es ein Wunder, dass wir die lange Saison mit unserer kleinen Truppe damals so erfolgreich gestalten konnten“, sagt Hennecken rückblickend. Weit über 40 Pflichtspiele steckten auch den Leverkusenern am Ende inklusive Aufstiegsrunde und Pokalduelle in den Knochen. Und gerade Spieler wie er, der nicht nur knallharte Freistöße schoss, sondern auch ein feiner Techniker und Dribbler war, bekamen ordentlich auf die Socken. „Die älteren Fußballfans werden vielleicht noch Hermann Straschitz vom Wuppertaler SV, die Kobluhn-Brüder aus Oberhausen oder Horst Stockhausen von Arminia Bielefeld kennen: allesamt richtige Kanten, bei denen man als kleiner Hänfling wie ich auf der Hut sein musste“, sagt Hennecken mit einem Schmunzeln.
Dem Nümbrechter liegt aber nichts ferner, als einer „Raue-Zeiten-Gute-Zeiten-Romantik“ das Wort zu reden. Dafür hat er die modernen Entwicklungen im Fußball bis heute viel zu intensiv miterlebt. Seit vielen Jahren trainiert, betreut und begleitet Hennecken Jugendmannschaften in seinem Klub SSV Homburg-Nümbrecht, organisiert Fußballcamps für Kinder, kümmert sich um ein Integrationsteam und schaut am Wochenende seinen Enkeln beim Kicken zu, die zum Teil in der Landesliga spielen.
Dass inzwischen sogar dauerhaft fünf Wechsel pro Spiel möglich sind, findet der ehemalige Bayer 04-Vertragsspieler nur folgerichtig. „Die Profis heute sind einer ganz anderen Belastung ausgesetzt. Sie machen zum Teil 50 Spiele und mehr pro Saison und gehen dabei noch mal ein viel höheres Tempo als wir damals. Spieler wie Karim Bellarabi sind ja schnell wie der Teufel. Dass sie öfter mal muskuläre Probleme haben, ist völlig normal. Deshalb braucht es heute auch einen fast doppelt so großen Kader, wie wir ihn 1967/68 hatten.“
Manches war dann früher aber doch einfacher. Etwa sich einer Einwechslung zu widersetzen, wie Hennecken es einmal tat. „Wir hatten zu Hause gegen Uerdingen schwer einen aufs Fell gekriegt, lagen 0:5 hinten und Theo Kirchberg wollte mich kurz vor Schluss noch einwechseln. Auf den Tribünen schrien sie schon: Ihr Dudelsäcke. Ich weigerte mich in aller Höflichkeit und sagte dem Trainer: Theo, lass es bitte, ich kann mich nur noch blamieren.“ Kirchberg hatte ein Einsehen und ersparte seinem unwilligen Offensivspieler den Gang aufs Feld.
Fredi Hennecken absolvierte zwischen 1966 und 1972 insgesamt 179 Einsätze für Bayer 04 und schoss 54 Tore. Drei Jahre lang war er Kapitän der Werkself. Bei den Jubiläumsfeierlichkeiten im Jahr 2018 (50 Jahre Regionalliga-West-Meisterschaft, 30 Jahre UEFA-Cup-Sieg und 25 Jahre DFB-Pokalsieg) wurde der Nümbrechter mit einigen seiner ehemaligen Mannschaftskollegen in der BayArena gefeiert.