Alles im Blick

So arbei­tet das Ana­lyse-Duo der Werks­elf

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Die Bedeutung der Spielanalyse hat in der Fußball-Bundesliga in den vergangenen Jahren kontinuierlich zugenommen. Die Auswertung der von der Deutschen Fußball Liga (DFL) bei jedem Spiel bereitgestellten Live-Daten liegt bei Bayer 04 in den Händen von Marcel Daum (35) und Simon Lackmann (40). Ihre Erkenntnisse und Analysen liefern sowohl in der Vorbereitung auf die Spiele – und auch live während der 90 Minuten – Cheftrainer Gerardo Seoane wichtige Informationen für seine taktischen und personellen Entscheidungen. Das Werkself Magazin schildert am Beispiel des Europa-League-Spiels gegen Celtic Glasgow (3:2), wie das Analysten-Duo arbeitet.

Matchday (Do., 25.11.21):

Simon Lackmann sitzt während des Spiels gegen Celtic hoch oben unterm Dach der BayArena auf seinem Video-Stammplatz, unten auf der Trainerbank hat derweil Marcel Daum zwischen Co-Trainer Alberto Encinas und Sportdirektor Simon Rolfes seinen Platz eingenommen. 45 Minuten vor dem Anpfiff überprüfen die beiden die Funk-Technik für ihre Kommunikation. Während des Spiels sind sie per Kopfhörer und Mikrofonen miteinander verbunden. Lackmann bedient auf seinem Beobachtungsposten einen Laptop, auf dem sich die Benutzeroberfläche der Spielanalyse-Software „Sportscode“ befindet. Außerdem hat er den Bildschirm im Blick, der ihn mit dem sogenannten „Scouting-Feed“ versorgt. Die Daten stammen von einer Analyse-Kamera, die drei Meter unter ihm postiert ist. Unten vor der Trainerbank hat Daum ein Tablet platziert, auf dem die Spielinformationen angezeigt werden, die Lackmann oben bearbeitet.

Das Duo achtet auf die Umsetzung der in der Woche besprochenen Prinzipien im Spiel der eigenen Mannschaft – und untersucht auch den Auftritt von Celtic Glasgow nach bestimmten Kriterien: Spielt die Mannschaft wie vom Trainerteam erwartet? Worauf muss die Werkself besonders achten, wenn die Schotten angreifen? Und in welchen Bereichen kann sie selbst dem Gegner gefährlich werden? Lackmann gibt seine Eindrücke aus der Vogelperspektive weiter, es kommt zu knappen Wortwechseln mit Daum, ihre Kommunikation ist eingespielt, sie arbeiten mit Schlüsselbegriffen. Gegen Celtic spielen erstmals Exequiel Palacios und Robert Andrich gemeinsam auf den Sechser-Positionen. Ihre Abstände untereinander und die zur Viererkette bei gegnerischen Angriffen müssen korrigiert werden. Lackmann meldet dies an Daum; Seoane wird informiert, er gibt den beiden Bayer 04-Profis neue Anweisungen. Lackmann kennzeichnet als „Beweis“ außerdem im Sportscode-Programm auf dem Laptop während der ersten Hälfte ausgewählte Szenen, die den Spielern in der Halbzeitpause auf einem Bildschirm in der Kabine gezeigt werden. Die Abstimmung zwischen den beiden Sechsern ist jetzt besser, Lackmann und Daum haben keinen Anlass zu weiteren Hinweisen, auch der Cheftrainer ist zufrieden. Im Verlauf der Partie wird Andrich mit zwei Toren zum spielentscheidenden Akteur.

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Auch während der Trainingseinheiten verfolgen die Analysten jede Bewegung und sind eine wichtige Hilfe für Gerardo Seoane.

Aber das Sechser-Thema ist nicht der einzige Komplex, den das Analyse-Duo behandelt. Unter anderem werden drei Abschluss-Situationen von Moussa Diaby dokumentiert, darunter der Führungstreffer. Lackmann macht sich auch einige Notizen für die Nachbereitung. Schon rund dreieinhalb Stunden vor der Partie, bei der Mannschaftsbesprechung, war die Expertise des Trainerteams gefragt gewesen. „Das ist eine taktische Sitzung. Alles, was wir zu dem Spiel gegen Celtic erarbeitet haben, wird komprimiert vom Cheftrainer präsentiert“, erklärt Daum. Dort fließt die gesamte Wochenarbeit von Daum und Lackmann, aber auch die Einschätzung der anderen Trainer ein. Der Job der Spielanalysten beschränkt sich natürlich nicht nur auf den Spieltag.

Matchday +1 (Fr., 26.11.21):

Am Morgen nach dem Sieg gegen Celtic und dem perfekt gemachten Einzug ins Europa-League-Achtelfinale wird das aufgenommene Videomaterial des Spiels bis zum Trainingsbeginn aufgearbeitet. Die finalen Clips bespricht Seoane mit Daum und Lackmann sowie den Assistenztrainern. Taktische und individuelle Auffälligkeiten sowie perfekte Umsetzungen werden anhand von Bildmaterial den Spielern gezeigt. „Durch die Videosequenzen können wichtige Spielsituationen zeitnah zu relevanten Botschaften für die Spieler werden, um etwas zu verbessern oder um aufzuzeigen, was gut war“, sagt Lackmann. Dabei geht der Blick meist sofort auch nach vorn, wie Daum betont, auf das nächste Spiel, das am folgenden Sonntag bei RB Leipzig ansteht. Spieltag +1 nach der Celtic-Partie ist für die Analysten also gleichzeitig auch Spieltag -2 für die Begegnung in Leipzig. Die Analyse-Basis für das Duell in Sachsen wurde vom Trainerteam derweil schon zu Wochenbeginn angegangen.

Matchday -3 (Mo., 22.11.21):

Drei Tage vor dem Spiel gegen Celtic beginnt die Vorbereitung der Abteilung Spielanalyse, zu der auch Moritz Laux, Fabian Petschke und Gilbert Gorges aus dem „Backoffice“ gehören. Das erste Spiel gegen Celtic vor acht Wochen in Glasgow wurde 4:0 gewonnen. Für den anstehenden zweiten Vergleich werden nur noch die letzten Spiele von Celtic in der Liga und in der Europa League gegen Budapest studiert. „Das Grundgerüst steht aus den Erkenntnissen rund um das Hinspiel. Wir müssen lediglich Kleinigkeiten anpassen“, sagt Lackmann.

Wir bearbeiten unsere nächsten Gegner immer überlappend, wir schauen also immer schon ein Spiel weiter

Parallel beginnt aber schon die Vorbereitung auf RB Leipzig, dem Bundesliga-Kontrahenten am Wochenende. „Wir bearbeiten unsere nächsten Gegner immer überlappend, wir schauen also immer schon ein Spiel weiter. Anders geht es ja in den Europapokal-Wochen auch gar nicht“, erklärt Daum. Zu Beginn erfolgt der Zugriff auf die hauseigene Datenbank, in der Grundeigenschaften anderer Teams erfasst sind. „Die Charakterprofile bestimmen grob gesagt, ob es sich zum Beispiel um eine Ballbesitz-Mannschaft, eine Gegenpressing-Mannschaft, eine Konter-Mannschaft, eine Standard-Mannschaft oder eine physische Mannschaft handelt“, erklärt Daum, der 2018 von Eintracht Frankfurt zu Bayer 04 kam. „Die Datenbank haben wir vor anderthalb Jahren angelegt. Wir nennen sie DataBay. Sie ist angedockt an die Rohdaten, die wir von der DFL erhalten. Daraus bauen wir unsere KPIs.“

KPI bedeutet Key Performance Indicator, gemeint sind die wichtigsten Leistungsparameter einer Mannschaft (siehe Kasten: Ein Spiel besteht aus 3,6 Millionen Live-Daten). Aber die Kunst liegt darin, das Material auszuwerten, zu interpretieren und konkrete Ergebnisse und Lösungen abzuleiten.

Die Vorbereitung auf den Gegner nimmt allerdings gar nicht die Hauptarbeit des Analyse-Teams in Anspruch, mit der eigenen Mannschaft beschäftigt man sich deutlich mehr. Zumal man im Unterschied zu den Europa-League-Teams die anderen Bundesliga-Teams schon recht gut kennt. Lackmann, der bereits seit 2009 in Diensten von Bayer 04 steht, und Daum kommen zusammen auf rund 800 Pflichtspiel-Einsätze, bei denen sie als Analysten tätig waren. „Normal beschäftigen wir uns zu 20 oder 30 Prozent mit dem Gegner, 70 bis 80 Prozent mit unserer Mannschaft. Wir kodieren jedes Training mit, zerlegen es je nach Thema in Einzelteile. Damit können wir den Trainern zeigen, was auch im Hinblick auf das nächste Spiel schon sehr gut klappt und wo noch Verbesserungsbedarf besteht“, sagt Daum. Alles geschieht ständig in intensiver Abstimmung mit dem Trainerteam, das auf der einen Seite Vorgaben macht, sich aber auch von den Hinweisen und Ideen der beiden Analysten leiten lässt.

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Matchday -2 (Di., 23.11.21):

Zwei Tage vor der Celtic-Partie wird die Analyse vertieft. „Das geschieht mehr anhand von Daten, nicht so sehr über Videos. So erfahren wir, in welche Richtung es in dem Spiel gehen kann“, sagt Daum. Es wird eine Grafik vorbereitet, in der die wichtigsten Erkenntnisse zum jeweiligen Gegner dargestellt werden. „Die Spieler kennen die von uns vor zwei Jahren entwickelte Grafik, man muss ihnen nicht mehr viel dazu erklären“, sagt Lackmann. Und es werden Videosequenzen zusammengeschnitten. „Wir müssen ja eine Grundlage schaffen. Am einfachsten klappt das durch Zahlen und Fakten. Aber wenn wir darüber informieren, dass RB Leipzig die zweitbeste Gegenpressing-Mannschaft ist, dann müssen wir das auch mit Bildmaterial belegen. Und daraus entwickelt sich die Frage: Was machen wir im Spiel daraus?“, erklärt Daum.

So ist es auch im ersten Spiel gegen Celtic gelaufen, als eine taktische Analyse zum Erfolg beitrug. Wie das Tor zum 2:0 von Florian Wirtz fiel, vorbereitet über Glasgows rechte Seite, war als Schwachpunkt des Gegners gezielt ausgespäht worden, da die Celtic-Außenverteidiger nach eingehender Analyse sich nicht klassisch verhalten, sondern ungewöhnlich weit nach innen ziehen und somit Räume freigeben. „Wir im Trainerteam haben darauf hingewiesen, dass wir bei Ballgewinn über die Außenverteidiger-Räume schnell umschalten könnten. Wir freuen uns natürlich, wenn die Mannschaft das dann so erfolgreich umsetzen kann“, sagt Lackmann. Wie groß allerdings sein Einfluss letztendlich ist, kann und will das Analyse-Duo nicht beziffern. Die Besprechungen mit dem Trainerstab und die Matchplan-Erstellung sind ein fortlaufender Prozess, ebenso wie die Detailarbeit, bei der Verhaltensmuster einzelner Spieler in Video-Clips zusammengeschnitten werden, um die Bayer 04-Profis mit Individual-Analysen der Gegenspieler zu versorgen.

Matchday -1 (Mi., 24.11.21):

In der Teamsitzung wird Celtic nun intensiv besprochen. Im Training wird an der Umsetzung der geplanten Strategie noch einmal gefeilt. Mithilfe des eigenen Kamerasystems wird das Training aufgezeichnet. So wird geprüft, ob die Spieler ihre Aufgaben verinnerlicht haben. Die Werkself-Profis bekommen von Daum und Lackmann mithilfe einer App die allgemeinen Gegner-Infos auf ihre Handys und Tablets zugeschickt, dazu noch die speziell für sie aufbereiteten Infos über ihre Gegenspieler. „Das sind alles gelernte Abläufe, die die meisten schon aus dem Nachwuchsleistungszentrum kennen. Der eine guckt sich die Infos etwas früher an, der andere etwas später, aber genutzt werden sie in der Regel von allen“, sagt Daum. Die Analyse-Ergebnisse können die Spieler auch in der Kabine auf den dort installierten Screens abrufen. Die gefilterten Hinweise, die sich die Spieler per Video besser als durch Gespräche einprägen können, sind nicht als feste Anweisungen zu verstehen, da sich Spielszenen niemals gesichert voraussagen lassen.

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Konzentriert, fokussiert und blitzschnell: Auch dank modernster Technik analysieren Marcel Daum (l.) und Simon Lackmann die Spiele live.

Und auch Gerardo Seoane und seine Assistenten sind mit der Celtic-Analyse versorgt. Einstudierte Spielzüge des Gegners, seine bevorzugte Angriffsseite, defensive Anfälligkeiten, die Stärken einzelner Spieler, wer schießt die Standards – alles ist vorbereitet für den Spieltag. Lackmann und Daum nennen sogar die voraussichtliche Aufstellung von Glasgow – sie weicht nur bei einer Position von der Elf ab, die Celtic am Tag darauf aufs Spielfeld der BayArena schickt. Der Spieltag kann kommen – und die Arbeit wird belohnt: Der 3:2-Sieg ist ein Erfolg der Mannschaft, des gesamten Trainerteams und des Analyse-Duos.

Das Porträt ist dem Werkself Magazin #34 entnommen, das im Januar 2022 erschienen ist. HIER geht's zum kostenlosen Online-Blätterkatalog.